Ausgabe 11/2008
6 Euro pro Tag
Von Heike Dierbach (Text) und Barbara Dombrowski (Fotos) |Der Einkaufstag beginnt für Maureen M. abends um halb sieben. Dann werden bei Lidl die knallroten "30 Prozent billiger"-Aufkleber auf den Waren verteilt. "Viele wissen das ja gar nicht", sagt die 69-Jährige und schiebt ihren Einkaufswagen schwungvoll zum Gemüsestand. Die kleine mollige Frau ist voll bei der Sache. "Super, der Kopfsalat ist billiger!" 25 statt 39 Cent, "da kann man doch nichts sagen!" Maureen M. legt in ihren Wagen auch noch eine Salatgurke, für 27 statt 39 Cent, dann geht es weiter in Richtung Kühlregal. Langsam schiebt sie die Reihe entlang, nur wo sie einen knallroten Aufkleber entdeckt, bleibt sie stehen. Reduziert sind heute auch der Bio-Quark (41 statt 59 Cent) und fertiger Broccolisalat (69 statt 99 Cent). Schon 74 Cent eingespart. Das ist wichtig für Maureen M.: Die Rentnerin aus dem Hamburger Viertel Großlohe lebt von aufstockender Grundsicherung. Sie hat im Monat 190 Euro zum Ausgeben. Heute ist der 25., 40 Euro sind noch übrig.
Mit ihren Jeans, blauem Poloshirt, den braun getönten halblangen Haaren und Lachfalten um die Augen sieht Maureen M. eher aus wie Mitte 50 denn wie Ende 60. Genauso wenig würde man vermuten, dass sie am Existenzminimum lebt. Ihr Lebenslauf ist der vieler Frauen ihrer Generation: Als junge Frau hat sie ein paar Jahre gearbeitet, als Serviererin in den Niederlanden, wo sie aufgewachsen ist. Dann hat sie ihren deutschen Mann kennen gelernt, einen Musiker, ist mit ihm nach Hamburg gekommen, hat geheiratet und drei Kinder groß gezogen, wurde geschieden. Dafür bekommt sie heute einen Teil der Rente ihres Ex-Mannes, 273 Euro, und eine Rente aus den Niederlanden, 234 Euro immerhin für die vier Jahre Arbeit damals. 351 Euro plus Miete ist laut Amt ihr Mindestbedarf, deshalb bekommt Maureen M. ergänzende Grundsicherung. Nach Abzug von Miete, Strom, Telefon, Wasser und Versicherungen bleiben ihr besagte 190 Euro pro Monat.
Wie vielen Rentner/innen es in Deutschland wie Maureen M. ergeht? Die offiziellen Zahlen geben sich da harmlos mit 2,4 Prozent Rentner/innen, die auf zusätz- liche Grundsicherung angewiesen sind, um durch den Monat zu kommen. Das sind 392000 Menschen über 65 Jahre, die im Jahr 2007 zusätzlich Grundsicherung beziehen mussten. Doch diese Zahl verhüllt noch mehr. "Hinzu kommt eine große Gruppe, deren Rente nur knapp über dem Existenzminimum liegt", sagt Ulrike Mascher. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Sozialverbandes VdK und sieht in ihrer täglichen Arbeit, wie viele "damit einfach nicht auskommen". Praxisgebühr, Zuzahlungen zu Medikamenten, gestiegene Energiekosten. All dies treffe ältere Menschen überproportional, sagt Mascher. Sie müssen öfter zum Arzt und haben nichts von Senkungen, etwa des Arbeitslosenbeitrags.
Und die Zukunft wird nicht freundlich sein zu alten Menschen - nicht zu Hausfrauen aber auch zu vielen nicht, die ein Leben lang gearbeitet haben: Denn die politische Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus wird viele Geringverdiener im Rentenalter unter das Existenzminimum drücken. Experten tippen auf zehn bis 30 Prozent aller Rentner/innen im Jahr 2030. "Wenn nichts passiert, wird es richtig bitter", sagt Ulrike Mascher.
Vor wenigen Stunden, am Nachmittag, war Maureen M. schon viel unterwegs: Im Toom-Prospekt hatte sie Angebote für Katzenstreu und Kitekat-Dosen entdeckt. "Meine Katzen Pauline und Lucy sind meine besten Freunde." Zu Toom muss sie 20 Minuten mit dem Bus fahren, die Tageskarte teilt sie sich mit einer Bekannten, die vormittags in der Stadt war. Die Übergabe der Fahrkarte an der Bushaltestelle nutzen die beiden Frauen gleich zu einem Schwatz. Die Bekannte hatte Krebs, Maureen M. erkundigt sich ausführlich, wie es mit der Chemotherapie geht. "Nicht die Hoffnung aufgeben!", sagt sie zum Abschied.
Im Supermarkt steuert sie stracks zum Regal mit dem Katzenbedarf und dann zur Kasse. "Die ganzen anderen Sachen sehe ich gar nicht", sagt sie bestimmt. Kleidung kauft sie auf dem Flohmarkt, aus dem Second-Hand-Laden oder auch mal beim Billig-Discounter: "Hier, dieses Poloshirt habe ich da im Frühjahr für 3,99 gekauft." Die Schuhe sind vom DRK-Shop, neu, für drei Euro. "Sind doch chic, oder?" Und dann sagt Maureen M. sehr bestimmt: "Ich fühle mich nicht arm. Man muss einfach das Beste draus machen." Vielleicht hilft ihr, dass sie nie ein anderes Leben kannte. Schon als Kind hat Maureen M. gelernt, dass Sparen Notwendigkeit und Tugend ist. Die Lohntüte, die der Stiefvater freitags mit nach Hause brachte, musste für die Woche reichen. "Aber ungerecht ist es schon. Ich habe schließlich drei Kinder groß gezogen", sagt sie nach einer kleinen Pause. Als sie wieder bei ihrer Haltestelle ankommt, verschenkt sie die Tageskarte an einen jungen Mann. "Hier haben viele wenig." Das hat auch sein Gutes: Es macht es leichter, kein Geld zu haben. Zumindest hier.
Die Zukunft, sie könnte freundlicher sein zu so vielen. Doch in Deutschland gilt der Grundsatz: Jeder bekommt das, was er eingezahlt hat - auch, wenn es unter dem Existenzminimum liegt. Viele andere Länder zahlen Geringverdienern eine im Verhältnis zu ihren Beitragsleistungen höhere Rente aus. Als Geringverdiener gilt, wer die Hälfte des Durchschnittseinkommens, also in Deutschland nicht mehr als knapp 1700 Euro brutto im Monat hat.
Maureen M. sollte umziehen - nach 42 Jahren
Im Durchschnitt bekommen Geringverdiener 73 Prozent ihres Bruttolohnes als Rente, hat eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD, gezeigt. Nicht so in Deutschland: Hier bekommen Geringverdiener nach der Rentenreform nur 39,9 Prozent ihres Einkommens als Rente. Mit dieser so genannten Bruttoersatzquote besetzt Deutschland den letzten von 30 Plätzen, weit hinter Ländern wie Mexiko (52,8 Prozent). Der Sprecher der OECD in Berlin, Matthias Rumpf, findet deutliche Worte für den Zustand der deutschen Rente: "Das deutsche Rentensystem ist nicht ausreichend gegen Altersarmut gewappnet. Eigentlich sollen die Abschläge durch die Riester-Rente ausgeglichen werden. Aber auch wenn die Förderung hier sehr üppig ist, sind Geringverdiener oft nicht in der Lage, die geforderte Sparleistung zu erbringen. Hinzu kommt, dass gerade Geringverdiener häufig von Erwerbsunterbrechungen betroffen sind und keine ausreichenden Rentenansprüche erwerben können."
Wie sich die Zukunft so vieler Rentner/innen anfühlt? Maureen M. sitzt im Wohnzimmer ihres Reihenhauses auf einer grauen Rundeck-Couchgarnitur, klopft auf das Polster und lacht: "Die habe ich letztes Jahr im Second-Hand-Laden gekauft. 130 Euro - das ist doch kein Geld! Die ist fast neu." Das Haus gehört der städtischen Wohnungsgesellschaft Saga. Vor 42 Jahren ist Maureen M. mit ihrem Verlobten eingezogen, seitdem wurde nichts modernisiert. Die Nachbarin ruft von der Terrasse herüber: "Maureen, hast du eine Schere?" Sie hat. Die Nachbarin schickt ihren kleinen Jungen, etwa acht Jahre alt. Er ist als Teufelchen geschminkt. Maureen M. bewundert sein Aussehen und fragt: "Wer hat dich denn so schön angemalt?" "Auf dem Straßenfest unten - und hat gar nichts gekostet", ist die Antwort.
Obwohl Hamburg-Großlohe als sozialer Brennpunkt gilt, fühlt sich Maureen M. hier wohl. Drei Mal die Woche arbeitet sie ehrenamtlich im Stadtteil-Treff um die Ecke, betreut dort das Internet-Café und das Bücherstübchen. Anfang des Jahres kam die Sachbearbeiterin des Sozialamtes auf die Idee, dass die Miete von 501 Euro zu hoch sei: Maureen M. sollte in eine billigere Wohnung umziehen. Aber so schnell lässt sich die Rentnerin nicht einschüchtern. "Das ist mein Zuhause. Hier kenne ich doch alle!", sagt sie, immer noch empört über das Ansinnen. Zum "Glück", muss man fast sagen, leidet sie manchmal unter Depressionen, gegen die sie dann auch Medikamente bekommt. Ihr Hausarzt stellte ihr ein Attest aus, dass ein Verlust der vertrauten Umgebung die Krankheit verschlechtern würde. Die Sachbearbeiterin schickte Maureen M. zur Amtspsychologin: "Aber die hat mich gut verstanden!" Maureen M. konnte in ihrem Haus bleiben.
Hier haben viele wenig, sagt Maureen M.. Großlohe gilt als sozialer Brennpunkt im reichen Hamburg. Eine Nachbarschaft, in der sie sich wohlfühlt. Sie arbeitet ehrenamtlich im Internet- Café und im Bücherstübchen des Stadtteil-Treffs.
Einen richtigen Urlaub hat Maureen M. lange nicht mehr gemacht. Seit acht Jahren hat sie einen Freund in Norwegen, den sie übers Internet kennen gelernt hat. Nächsten Monat will sie ihn wieder einmal besuchen, die Busfahrkarte hat er ihr zum Geburtstag geschenkt. Abfahrt in Hamburg ist um 23 Uhr 30, Maureen M. wird die ganze Nacht im Bus verbringen. Mit 69? "Och, das geht schon! Lohnt sich doch, für zwei Wochen." Ihr Konto, darauf legt sie Wert, hat sie noch nie überzogen.
Einmal, vor Jahren, war sie auch bei der Hamburger Tafel, die Lebensmittel an Bedürftige verteilt. Eine Nachbarin, die auch immer hingeht, hatte ihr den Tipp gegeben. "Aber als ich in der Schlange die Mütter mit Kindern sah, dachte ich, so schlecht geht es dir doch gar nicht." Maureen M. gab ihre Wartenummer zurück und ging wieder nach Hause. Ihre eigenen Kinder würde sie nie um Unterstützung bitten. "Mein Sohn ist selbstständig und muss auch genau rechnen." Die beiden Töchter wären zwar in der Lage, ihre Mutter zu unterstützen, aber das Verhältnis ist kompliziert.
Was nützen Gedanken über mehr Geld?
Eine Schlange von alten Menschen vor den örtlichen Tafeln - wie lassen sich solche künftigen Bilder vermeiden? Ulrike Mascher fordert, Elemente des sozialen Ausgleichs wieder ins deutsche Rentensystem aufzunehmen, nachdem diese erst 1992 gestrichen wurden. "Vor allem aber müssen die Menschen einen Job haben und anständige Löhne verdienen, mit denen sie auch Rentenansprüche erwerben", sagt die einstige Betriebsrätin und spätere Staatssekretärin im Bundessozialministerium. Geringverdiener, Arbeitslose und Menschen mit unterbrochener Erwerbsbiographie haben ein besonders hohes Risiko, im Alter arm zu sein. Bei Arbeitslosen ist dies gar politisch programmiert: Für Hartz-IV-Empfänger zahlt der Staat so wenig in die Rentenkasse, dass der Betroffene pro Jahr Arbeitslosigkeit gerade mal 2 Euro 19 Rentenansprüche erwirbt.
Maureen M. ist wichtig, dass man ihr ihre Armut nicht auf den ersten Blick ansieht. Auch wenn sie abends erst ab halb sieben zu Lidl geht, weil dann dort ein Teil der Waren zu 30 Prozent billiger verkauft werden.
Es könnte schwer werden für das deutsche Rentensystem, in seiner jetzigen Verfassung zu überleben. Warum sollte ein Geringverdiener überhaupt noch in die Rentenkasse einzahlen, wenn er am Ende doch nicht mehr als die Grundsicherung bekommt? So wie Maureen M.s verstorbener Ex-Mann: Wenn er nie gearbeitet hätte, hätte sie heute genau so viel beziehungsweise wenig. Im jüngsten Altenbericht der Bundesregierung von 2005 liest sich das so: "Es besteht die Gefahr, dass die Gesetzliche Rentenversicherung angesichts der Reduktion ihres Leistungsniveaus zunehmend an Legitimation verliert, wenn für einen Großteil der Versicherten selbst nach langer Versicherungsdauer kaum eine Versicherungsleistung zu erwarten ist, die deutlich das Niveau von Sozialleistungen übersteigt." Sperriges Behördendeutsch zwar, aber deutlich.
Maureen M.s Einkaufstag geht zu Ende. Sie braucht noch Zutaten für einen Auflauf: Am Sonntag kommt ein junger Mann aus dem Internet-Café und hilft ihr mit dem Computer, sie möchte ihn zum Mittagessen einladen. "Ich hab ihm schon gesagt, er soll auch eine Dose mitbringen, damit ich ihm noch etwas einpacken kann." Maureen M. kauft das billigste Hack (1 Euro 49 für 500 Gramm), eine tiefgefrorene Gemüsemischung (1 Euro 59), "Kartoffeln hab ich zum Glück noch." Als sie zur Kasse schiebt, ist mit neun Artikeln eine Ecke des Wagens gefüllt. Maureen M. blickt auf ihren Einkauf und rechnet. "Mit fünf Euro komme ich wohl aus." Am Ende sind es sechs Euro und neun Cent. Maureen M. bringt ihren Wagen weg. "Sechs Euro für so viele Sachen. Toll, nicht? Darauf bin ich richtig stolz!" Wie viel mehr würde sie brauchen, damit sie nicht mehr jeden Cent umdrehen muss? Sie zögert, die Frage hat sie sich noch nie gestellt. "Wenn ich so 400 Euro zum Ausgeben hätte, das wäre schon gut." Aber was nützen solche Gedanken? "Ich kann es ja nicht ändern." Maureen M. trägt ihre Tüte mit den Einkäufen nach Hause. 21 Euro bleiben ihr noch bis zum nächsten Ersten. 2 Euro 63 pro Tag.
Was tun gegen Altersarmut?
Das Rentenniveau soll bis 2030 um 15 bis 20 Prozent sinken. Wer nicht das Geld für zusätzliche Vorsorge hat, dem droht möglicherweise Altersarmut. Um dies zu verhindern, fordert ver.di:
- Die beschlossenen Kürzungsfaktoren in der Rentenformel zurücknehmen.
- Die gesetzliche Rentenversicherung zum Sicherungssystem für alle Erwerbstätigen ausbauen. Also auch für Solo-Selbstständige, politische Mandatsträger, Beamt/innen, berufsständisch versorgte Selbstständige.
- Keine Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten vor dem 63. Lebensjahr. Erleichterter Zugang für Erwerbsgeminderte ab 55 Jahre, die nur noch leichte Tätigkeiten verrichten können.
- Höhere Absicherung der Arbeitslosigkeit. Rentenversicherungsbeiträge während des ALG-II-Bezugs mindestens nach der Hälfte des Durchschnittsverdienstes berechnen.
- Rente nach Mindesteinkommen. Damit Höherbewertung von Zeiten mit niedrigem Einkommen. Bedingung: mindestens 25 Jahre rentenrechtliche Zeiten.
- Grundsicherung im Alter anpassen. Freibeträge schaffen. Altersvorsorge wie etwa die Riesterrente muss sich lohnen.
- Keine Rente mit 67!
- Die BA muss weiter Altersteilzeit fördern. Teilrenten breiter zugänglich machen.
- Betriebliche Altersversorgung ausweiten. Deshalb die volle Beitragspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung bei Betriebsrenten wieder abschaffen. Betriebliche Altersversorgung und Guthaben aus Lebensarbeitszeitkonten trennen. Provisionen und Kosten für die Verträge transparenter machen. Betriebsräte an der Gestaltung der Altersversorgung beteiligen. UVS