Ausgabe 11/2008
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Hundert fidele Stunden
Ignacio Ramonet: Fidel Castro - Mein Leben | Jeder Journalist weiß, was es bedeutet, wenn der Interviewpartner den Text erst freigibt, nachdem er ihn nochmal angesehen und gefeilt, also autorisiert hat. Die besten Sachen, dem Interviewten im Rausch der Rhetorik entschlüpft, sie verschwinden. Meist fallen sie kleinkarierten Feinstbeschreibungen langweiliger Sachverhalte zum Opfer. Der Journalist wird dahinter eine Spur Angstschweiß vermuten, und wenig Zutrauen zum eigenen gesprochenen Wort. Beides ist im Fall Castro eher unwahrscheinlich. Ignacio Ramonet, bekannt als kritischer Journalist, attac-Begründer und Ex-Chefredakteur der Le Monde Diplomatique, stellt sich hier hinter diese Praxis des Autorisierens. Und muss den Vorwurf des Unkritischen nun von meist linker Seite aushalten.
In der Einleitung zum 800-Seiten-Interview mit Fidel Castro geißelt er verwehrtes Gegenlesen als feige. Zensiert und verleumdet werde Castro seit jeher. Sein Ziel sei gewesen, den Commandante erstmals selbst zu Wort kommen zu lassen und zwar in langen persönlichen Gesprächen. Zwischen 2003 und 2005 reiste Ramonet wiederholt nach Kuba, um - meistens nachts - mit Fidel zu sprechen. Die ungeheure Fleißarbeit, die beide mit dem dicken Castro-Schmöker geleistet haben, muss als beider Vermächtnis gewertet werden. Ein 82 Jahre währendes, pralles Leben will ja strukturiert werden, bevor man es hinterfragen kann. Und wenn Ramonet schildert, wie Castro noch vom Krankenbett aus Änderungen vornahm, ahnt man hinter dem "Perfektionisten" Castro den Kontroletti Castro. Kaum Persönliches gibt er von sich preis. Dennoch, Fragen und Antworten sind reich, unterhaltsam und von einem ernsthaft-freundlichen Plauderton bestimmt. Die beiden Alten reden über Fidels Kindheit, die Befreiungskriege, die Rolle Kubas beim Putschversuch gegen Hugo Chavez, alle Stationen der kubanischen Revolutionsgeschichte. Castro äußert sich zur Todesstrafe und sinniert über den Kampf, sich als mächtiger Staatsmann selbst zu kontrollieren.
Ob Ramonet ihn nun offen und kritiklos bewundert, seinen Commandante - beide haben ein großes Stück Zeitgeschichte zu lesen gegeben. Dass der Weg zur Wahrheit damit nicht zu Ende ist, war doch klar.
Jenny Mansch
Rotbuch 2008, Ü: Barbara Köhler, 783 Seiten, 29,90 €
Dietmar Dath: Für immer in Honig | Dieses 1040-Seiten-Buch ist ein Monster. Es kann ganz zärtlich eine Blume pflücken, aber auch ganze Städte zerstören. Sein Schöpfer Dietmar Dath, der in all seinen Büchern autobiografische Spuren legt, hat mit Für immer in Honig so etwas wie sein Vermächtnis - mitten im Leben - vorgelegt. 2005 im kleinen Implex Verlag erschienen und vergriffen, wurde der Endzeitroman jetzt im Verbrecher Verlag neu aufgelegt. Wer kein Blut sehen kann, sollte sich überlegen, ihn aufzuschlagen - oder weiterblättern zu den lustigen Stellen, dem Sex oder den eingeschobenen Belehrungen. Dieses Kriegsbuch verlangt viel von uns, aber gibt auch viel - oft mehr, als wir wegtragen können. Ein dreiseitiges Verzeichnis "einiger Personen der Handlung" ist erst einschüchternd, später recht hilfreich. Es ist unmöglich, die Handlung nachzuerzählen. Aber die Welt geht nicht ganz unter, und es hat eine Revolution gegeben. Leider können das einige der Figuren, die wir ins Herz geschlossen hatten, nicht mehr erleben. Zum Beispiel das Mädchen Valerie, das anfangs fragt: "Ist das ein Krieg? Gibt es da Seiten? Wohin gehöre ich? Kann ich mir das aussuchen?" Kann sie nicht.
Klix
ROMAN, NEUAUSGABE, VERBRECHER VERLAG, 1040 SEITEN, 36 €
Susanne Mischke: Der Tote vom Maschsee | Es ist ein Gerücht, dass Krimis aus Skandinavien grundsätzlich besser sind als solche von deutschen Autor/innen. Von Susanne Mischke, der souveränen Expertin für den ironischen Blick in die grausigen Abgründe der menschlichen Seele, darf man zuverlässig seit vielen Jahren feinst ausgeklügelte literarische Verbrechen erwarten, die es mit jedem angeblichen Star aus dem hohen Norden aufnehmen können. Im deutschen Norden lässt die mehrfach preisgekrönte Autorin nun erstmals einen Kommissar ermitteln, der in seiner skurrilen Normalität - er hat Frau und Tochter und züchtet Schafe - samt seinem scharf charakterisierten Team aus heißblütigem Macho, cooler Emanze und hochbegabter Elevin für viele Folgebände gut sein dürfte. Die vier von der Hannoveraner Kripo suchen den Mörder eines berühmten Psychiaters, der als Experte für Sexualstraftäter gern gesehener Talkshowgast ist und viele potenzielle Feind/innen hat. Dass seine Zunge sich auf dem Grab des Massenmörders Fritz Haarmann findet, ist ein wunderbar gruseliges Detail und typisch Mischke, die in diesem Serienauftakt ohnehin glänzend in Form ist: böse, witzig, irreführend und ganz nah am spannenden Geschehen.
UL
KRIMI, PIPER, 297 Seiten, 14 €
ZEO2 | Der Abschied von der billigen Energie schmerzt - und muss bei richtiger politischer Weichenstellung trotzdem nicht zur Katastrophe werden für diejenigen, die nur über einen kleinen Geldbeutel verfügen; so gesehen ist Energiepolitik auch zu einem erheblichen Teil Sozialpolitik. Über Mönchengladbach wurden in diesem Sommer 22 Geier gesichtet, die in Deutschland seit 150 Jahren als ausgestorben galten, und Elektroroller sind praxistauglich, wie ein Selbstversuch zeigt. Solche und ähnliche Themen präsentiert die neue Zeitschrift ZEO2, ein sowohl gut recherchiertes als auch attraktiv aufgemachtes, politisches Umweltmagazin, das die Deutsche Umwelthilfe herausgibt. Die unabhängige Redaktion beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit einer zukunftsfähigen Energie- und Verkehrspolitik sowie mit Naturschutzthemen - und verliert dabei soziale Fragen nicht aus dem Blick. Auch internationale Fragen werden informativ und unterhaltsam aufbereitet, wie etwa die US-Präsidentschaftskandidaten im Öko-Test. ZEO2 erscheint viermal jährlich; ein Jahresabonnement kostet 12 Euro.
AJE