Opulente Farben ohne Worte

Emmanuel Lepage: Muchacho | Nicaragua zur Zeit des Somoza-Regimes Mitte der siebziger Jahre: Das kleine Dorf San Juan wird in die Kämpfe zwischen Sandinisten und den vom amerikanischen Geheimdienst CIA unterstützten Regierungstruppen hineingezogen. Der junge Priesternovize und Maler Gabriel de la Serna reist in das entlegene Dschungeldorf, um ein Fresko in der dortigen Kirche fertigzustellen. Aus gutem Hause mit Verbindungen in höchste Kreise stammend, wird er im Verlauf seines Aufenthaltes Zeuge brutaler Schikane der Armee gegenüber der Bevölkerung - und ergreift Partei für diese. Nach einer Strafaktion des Militärs gegen die Dorfbewohner flieht der junge Mann in den Dschungel und schließt sich der Guerilla an, wobei er nicht nur kämpfen lernen, sondern sich auch seiner Homosexualität stellen muss.

Der 1966 geborene bretonische Autor und Zeichner Emmanuel Lepage war zum Zeitpunkt des Sieges der FSNL über Somoza 13 Jahre alt. Seine grafische Novelle um den Befreiungskampf des nicaraguanischen Volkes beeindruckt trotzdem durch Authentizität. Zum einen ist diese Tatsache der differenzierten Charakterisierung der Figuren geschuldet; vornehmlich aber liegt das an der äußerst gelungenen zeichnerischen Umsetzung des Stoffes. Der Sieg über das diktatorische Regime durch eine Allianz aus Liberalen, Sandinisten und Christen, aber auch die zum Teil als homophob dargestellte Guerilla bilden Widersprüche ab, anstatt einseitig zu glorifizieren. Der ständig präsente, feuchtschwüle Dschungel bildet dazu einen überzeugenden Hintergrund, der den Leser durch eine dem Handlungsschauplatz entsprechende organisch-wuchernde Farbgestaltung beeindruckt. Oft erzählt Lepage in langen, ohne Worte auskommenden Bildsequenzen, die ihre narrative Kraft aus eben jener Kolorierung und einer extremen Detailgenauigkeit beziehen.

Im Zuge der Popularisierung von Comics, die über den bis in die siebziger Jahre üblichen Umfang eines Heftes oder Albums hinausgehen und als Graphic Novels bezeichnet werden, hat man die im französischen Original in zwei Alben erschienene Erzählung zu einem Buch zusammengefasst. Dadurch wurde das ursprünglich größere Seitenformat verkleinert, was den Bildern etwas von ihrer Opulenz nimmt.

OLIVER RISTAU

GRAPHIC NOVEL, CARLSEN VERLAG, Ü: Marcel Le Comte, 168 S., 24,90 €


Chaim Noll: Der Kitharaspieler | Der Ghostwriter von Kaiser Nero zu werden - für einen jüdischen Schreiber am Kaiserhof ist das kein Alptraum, sondern seine Realität. Er macht Karriere. Nero feiert mit dem für ihn geschriebenen Poem Der Kitharaspieler bei öffentlichen Auftritten Triumphe. Der Icherzähler lebt gefährlich, denn solange es ihn gibt, gibt es auch das Wissen um seine Autorenschaft, das Neros Künstler-illusion stört. Der historische Roman von Chaim Noll erforscht die Umbrüche jener Zeit. Eine jüdische Sekte bringt auch das Leben der assimilierten Juden im römischen Staat in Gefahr, denn die "Christiani", die Anhänger des verstorbenen Wunderrabbis Jeshua, wollen sich nicht im Bestehenden einrichten. Das bemerkenswerte Buch bewegt großes historisches Wissen sehr anmutig in klarer Sprache. Der Moment, als das Christentum aus dem Judentum hervorging, wird dramatisch beleuchtet. Der Icherzähler überlebt Nero. Er reist am Ende des Buches nach Judäa und wird die mündliche Lehre aufschreiben, nachdem der Tempel in Jerusalem zerstört und das Volk zerstreut wurde.

KLIX

Roman, Verbrecher Verlag, Berlin 2008, 815 S., 34 €


Izzet Celasin: Schwarzer Himmel, schwarzes Meer | Der in der Türkei geborene Autor pflegt in seinem Roman über den Militärputsch von 1980 eine kühle Sprache - Celasin saß nach dem Putsch jahrelang im Gefängnis und erreichte erst 1988 das Exil in Norwegen. Erzählt wird hier die Geschichte einer radikalen Militarisierung, von einem jungen Mann, der sich selbst nicht zum bewaffneten Kampf entschließen kann. Er wird Sympathisant aus Liebe zu einer Kämpferin aus der Studentenbewegung, die später eine Untergrundgruppe führt. Sie schießt scharf und gerät am Ende in Widersprüche mit dem eigenen moralischen Anspruch, während der Erzähler versucht, die Dinge legal am Laufen zu halten. Hier kommt aus Norwegen ein Bildungs- und Exilroman der türkischen Linken, bei dem nachhaltig vor allem die Schilderung der Folter wirkt. Der Erzähler erkennt sie bei einem Zellengenossen: "Ich sah mir seine Wunden an. Es gab keine Worte für die Gewalt, mit der sie ihm zugefügt worden waren." Aber nachdem er sie dann selbst erfahren hat, da gibt es sehr klare Worte für die Folter in den türkischen Gefängnissen. Und damit ist dieser Roman eine wichtige Stimme im Feld der politischen Literatur aus der Türkei.

ZÄH

ROMAN, Ü: G. FRAUENLOB, KIEPENHEUER & WITSCH 2008, 399 S., 19,95 €


Alan Bennett: Die souveräne Leserin | The Queen is amused: Ihre starrsinnigen Corgis schleppen sie in einen Bücherbus, der jeden Mittwoch Buckingham Palace ansteuert. Weil Elizabeth II. jedes Protokoll beherrscht, leiht sie sich ein Buch aus. Und verfällt einer wilden Leselust: Lauren Bacalls Memoiren verschlingt sie genauso wie Prousts Suche nach der verlorenen Zeit oder Gedichte von Thomas Hardy. Nach fünfzig Jahren akribischer Pflichterfüllung erlaubt sich die Monarchin ein paar Extravaganzen. Sie liest überall: im Bett, während der Parlamentseröffnung, bei der Weihnachtsansprache. Beim Staatsbankett fragt sie den französischen Premier nach Jean Genet. Lesen verändert eben doch das Leben. Kurz und gut - ein Buch für zwischen den Jahren.

UH

KRIMI, WAGENBACH, 120 S., 14,90 €