Ausgabe 01/2009-02
Es geht an die Substanz
Leiharbeiter/innen werden häufig schlechter bezahlt, haben weniger Rechte und werden in der Krise als Erste entlassen. Und auch das Risiko, krank zu werden oder bei der Arbeit einen Unfall zu haben, ist höher als bei Kollegen in den Stammbelegschaften
Von UTA VON SCHRENK
Es war ein Tag im Dezember 2007, an dem Cornelia Entrop (52) eine Bandscheibe einbüßte. Das vorweg: Cornelia Entrop heißt in Wirklichkeit anders. Sie ist Zeitarbeiterin, und als solche wurde sie per Vertrag verpflichtet, über sämtliche Belange, die ihren Auftraggeber betreffen, zu schweigen. Also auch über die Umstände, die dazu führten, dass ihre Bandscheibe heute auf den Spinalnerv drückt. Cornelia Entrop arbeitete bis vor kurzem bei einem Buchgroßhändler, Bücher sortieren, in Wannen von bis zu 35 Kilogramm packen, bis zu 50 Wannen am Tag auf Paletten wuchten.
An jenem Tag vor gut einem Jahr musste sie mehrere Wagen voller Bücher eine Rampe hochschieben. "Nach Feierabend verspürte ich starke Schmerzen im linken Bein", sagt sie. Der Notarzt diagnostizierte Muskelfaserriss und Cornelia Entrop ging wieder zur Arbeit. "Zeitweise konnte ich laufen, zeitweise nicht, dazu kamen unerträgliche Rückenschmerzen", sagt sie. Ihre Arbeit schafft sie nur unter Schmerzmitteln. Im Oktober 2008, ein Dreiviertel Jahr später, ist Cornelia Entrop reif für die Computertomografie. Die Diagnose: ein Bandscheibenvorfall. Der Arzt schreibt sie krank, ermahnt sie, nie wieder schwer zu heben, 14 Tage später arbeitet sie wieder. Nach dem ersten Tag geht sie weinend aus dem Betrieb und direkt zum Arzt. "Drei Tage später war ich weg vom Fenster." Gekündigt, arbeitslos.
Warum Cornelia Entrop nicht die Berufsgenossenschaft eingeschaltet, ihren Arbeitsunfall gemeldet hat? "Ich konnte es mir nicht erlauben, krank zu machen", sagt sie, "das jüngste Kind noch zu Hause, frisch getrennt, zu lange raus aus meinem Beruf als Krankenschwester." Also ging sie weiter Bücher packen, für 7,38 Euro die Stunde, brutto. "Ich war nicht die Einzige, die mit Schmerzen zur Arbeit ging", sagt sie, "wenn jemand von uns Leiharbeitern krank wurde, war er schnell raus aus dem Betrieb."
Leiharbeitnehmer haben ein zwei- bis dreifach erhöhtes Unfallrisiko im Vergleich zur Stammbelegschaft. Davon geht der Verband deutscher Sicherheitsingenieure aus. Der letztes Jahr veröffentlichte Unfallverhütungsbericht der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) weist 34,0 meldepflichtige Unfälle pro tausend Versicherte in der Zeitarbeitsbranche aus. Die Zahl der meldepflichtigen Unfälle allgemein liegt bei 28,3 je tausend Vollarbeiter. Insgesamt ist die Unfallhäufigkeit in der Zeitarbeit rasant gestiegen, von 2005 bis 2006 um 16 Prozent. "Leiharbeitnehmer sind Beschäftigte zweiter Klasse, das hat Folgen für den Arbeits- und Gesundheitsschutz", sagt Gerd Denzel, bei ver.di für Leiharbeit zuständig.
Das kann nur schief gehen
Horst Riesenberg-Mordeja, ver.di-Sekretär für Arbeits- und Gesundheitsschutz, sieht die Hauptursache für die erhöhten Unfallzahlen darin, dass sich Ver- und Entleiher nur unzureichend koordinieren. "Da werden Leute ins Unternehmen reingeholt, vielleicht vom Verleiher mit Schutzkleidung ausgestattet, an eine Maschine gesetzt, und dann sollen die ohne gründliche Einweisung in die Risiken sofort loslegen - das kann nur schief gehen." Und wenn es schief geht, tragen die Kosten für den Unfall der Verleiher und die Berufsgenossenschaft. "Es tut dem Auftragsunternehmen nicht weh, wenn etwas passiert", sagt Riesenberg-Mordeja.
Der Gewerkschafter fordert daher, dass die Entleiher stärker in die Pflicht genommen werden, und denkt dabei vor allem an solide Qualifizierungsmaßnahmen. So hat etwa die Arbeitssicherheitsabteilung der Berliner Stadtreinigung (BSR) vorgeschlagen, Leiharbeitnehmer mindestens eintägig über die Gefahren der Arbeit aufzuklären. "In Entsorgungsbetrieben sind manche Tätigkeiten wie die Abfallsammlung oder die in den Abfallbehandlungsanlagen extrem risikobehaftet", sagt Christoph Benning, Leiter Arbeitssicherheit bei der BSR. Etwa jeder zehnte Müllwerker erleidet jährlich einen Unfall. Damit gehört diese Branche zu den gefährlichsten in Deutschland. "In Anbetracht einiger grässlicher Unfälle, die etwa in der Müllabfuhr und Abfallbehandlungsanlagen passieren, ist eine einfache Arbeitsschutzunterweisung von einer halben Stunde nicht ausreichend", sagt Benning, "denn Leiharbeitnehmer kennen nicht die Tücken der Tätigkeit, besitzen zu Beginn nicht die erforderliche Fitness und haben nicht die Routine, die ein Müllwerker hat, der den Job seit Jahren macht."
Zu der meist dürftigen Unterrichtung über die Gefahrenpotenziale der Arbeit kommt als Risiko hinzu: Leiharbeitnehmer/innen erledigen zumeist monotone, körperlich schwerere Arbeiten als die Stammbelegschaft. Das belegen Zahlen der BAuA. "Was gehen uns die Leiharbeiter an, sind ja nicht unsere Leute", sei eine weit verbreitete Haltung unter den Auftragsunternehmen, sagt Gerd Denzel.
Eine gigantische Reserve
Die Zeitarbeit ist eine wachsende Branche, seitdem die rot-grüne Bundesregierung mit dem Gesetzespaket Hartz I von "atmenden Fabriken" träumte. Jederzeit kündbar, billig und vielseitig einsetzbar - was mit der Deregulierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes 2002 geschaffen wurde, ist eine gigantische Reserve von oftmals erpressbaren Arbeitnehmern, die je nach Bedarf zwischen Personaldienstleistern, Auftragsunternehmen und Arbeitslosigkeit hin und her geschoben werden können. Innerhalb von sechs Jahren ist die Branche von etwa 300000 Leiharbeitnehmern auf 800000 im Jahre 2008 angeschwollen. Zwar erlebt sie derzeit eine Entlassungsphase aufgrund der internationalen Finanzmarktkrise, dennoch gehen Experten davon aus, dass sich gerade dieser Markt schnell wieder erholen wird.
Mit der Dimension der Leiharbeit ist die Problematik Unfallrisiko inzwischen auch in der Politik angekommen. Mitte Dezember gründeten Bund, Länder und Unfallversicherung die Nationale Arbeitsschutzkonferenz. Zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit zählt auch die Reduzierung der Arbeitsunfälle in der Zeitarbeit. Nun sollen vor allem die Entleihunternehmen überwacht und beraten werden, heißt es bei der für Zeitarbeit zuständigen Verwaltungsberufsgenossenschaft (VBG).
Dass die Überwachung des Arbeitsschutzes dringend notwendig ist, bestätigt Cornelia Entrop aus der Praxis. Nur einmal sei jemand vom Arbeitsschutz beim Buchgroßhändler vorbeigekommen, ordnete an, dass die Bücher-Wannen nur noch bis Brusthöhe gestapelt werden dürfen, und ging wieder. "Es dauerte nicht lange, da wurde wieder bis Kopfhöhe und höher gestapelt", sagt Entrop. Horst Riesenberg-Mordeja wünscht sich daher auch mehr Aufmerksamkeit der Betriebsräte in den entleihenden Unternehmen. Zumal die Verantwortung für die Sicherheit im Betrieb - und das schließt die Leiharbeitnehmer mit ein - nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz beim Entleiher liegt.
Eigentlich müssten zumindest die verleihenden Unternehmen, wie die Branchenführer Randstad und Adecco ein Interesse daran haben, den gesundheitlichen Schutz für ihre Mitarbeiter zu stärken. Denn sie zahlen laut VBG aufgrund ihrer hohen Unfallrate etwa doppelt so hohe Beiträge an die Berufsgenossenschaften: Im Jahr 2007 betrug der durchschnittliche Beitrag aller Berufsgenossenschaften 1,28 Prozent der Bruttolohnsumme.
Cornelia Entrop jedenfalls hat genug von der Zeitarbeitsbranche. "Was da passiert, das ist Ausbeutung." Sie hat nun eine Stelle in ihrem alten Beruf angenommen - als Krankenschwester in einem Seniorenheim. Tut das ihrem Rücken nicht alles andere als gut? "Ich versuch's, so lange es geht, Hauptsache, erst einmal raus aus der Zeitarbeit", sagt sie.
In der Krise
Bis zu 150000 Leiharbeitnehmer/innen sind nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft seit Ende vergangenen Jahres entlassen worden. Hintergrund ist vor allem die Krise der Autoindustrie und ihrer Zulieferer. Im Sog mitgerissen wird unter anderem die Logistikbranche, aber auch die Wellpappeindustrie
Im Juni 2008 waren noch 794363 Leiharbeitnehmer/innen bei der Bundesagentur für Arbeit statistisch erfasst. Dies war der höchste Stand seit Beginn der Aufzeichnungen im Januar 1994 (103278). In der Krise erweist sich dieser Boom jetzt aber als Bumerang, weil die Unternehmen ihre Leiharbeitnehmer/innen leichter wieder loswerden. Ihnen kann schneller "gekündigt" werden, sie haben keinen Anspruch auf Abfindungen und Sozialauswahl, sie werden einfach beim Verleiher abbestellt. Viele werden entlassen oder hatten Zeitverträge, die nicht verlängert werden.
Einfach abbestellt
Der größte Wellpappehersteller in Europa, Smurfitt Kappa, hat ebenso Leiharbeitnehmer abbestellt wie etliche Logistikunternehmen. Beim Logistiker Kühne + Nagel zeichne sich ab, dass der Einsatz der Leiharbeitnehmer reduziert wird, sagt Detlef Dreyer, ver.di-Sekretär Bereich Logistik.
Besonders schwierig sei die Situation der Helfer, berichtet Wolfram Linke vom Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V. (ITZ): "Dort sind die Aufträge um 50 bis 60 Prozent zurückgegangen. Facharbeiter werden aber weiterhin gesucht." Diese Einschätzung bestätigt Michael Wehran vom Bundesverband Zeitarbeit (BZA): "Betroffen sind die Automobilhersteller und die Zulieferer. Die meisten anderen Branchen haben keine Probleme." Laut Spiegel bestellt VW die Mehrzahl der 4500 im Konzern beschäftigten Leiharbeitnehmer ab, 5400 mussten bei BMW gehen, 10000 waren bei Continental weltweit beschäftigt, von den meisten hat sich das Unternehmen getrennt. Obwohl die Banken der Auslöser der Finanzkrise waren, werden hier Leiharbeitnehmer/innen gesucht. "Die Firma Bankpower hatte Ende Januar 250 offene Stellen im Angebot", betont Wehran.
Armutsfalle Leiharbeit
Diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, sind nicht bereit, über ihre Situation öffentlich zu sprechen. Zu groß ist die Angst, dann gar keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Viele müssen ihr geringes Arbeitslosengeld nach Hartz IV aufstocken, da ihr Verdienst so niedrig war. Gegen die Armutsfalle Leiharbeit könnte ein gesetzlicher Mindestlohn helfen (Bericht Seite 11). Zudem fordern die Gewerkschaften gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Obwohl genauere Beschäftigungszahlen von Leiharbeitnehmer/innen nicht vorliegen, schrillen bei einigen Politikern die Alarmglocken. Schon Anfang November verkündeten das Bundesministerium für Arbeit und die Bundesagentur für Arbeit, dass auch Verleihfirmen Kurzarbeit anmelden können. Dies war zuvor nicht möglich. "Wir können nicht feststellen, dass die Verleiher von der Kurzarbeiter-Regelung Gebrauch machen. Von ,qualifizieren statt entlassen', wie es sich die Bundesregierung vorstellt, bisher keine Spur. Bei Auftragsrückgang wird gekündigt", sagt Petra Gerstenkorn, Mitglied des ver.di-Bundesvorstands.
Abbau vor Kurzarbeit
Auf Kurzarbeit setzt auch der Betriebsrat bei Randstad. "Wir sind momentan dabei zu prüfen, ob wir über Kurzarbeit den Personalabbau einschränken können", erklärt Beate Voigt, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende bei Randstad-Ost. Zahlreiche Beschäftigte seien bereits entlassen worden, hätten aber eine Abfindung erhalten. "Sobald sich die Situation wieder bessert, werden sie als erste angesprochen, bevor neue eingestellt werden. Dies hat uns der Arbeitgeber zugesagt", so Voigt. Doch wann das Geschäft der Verleihfirmen wieder anzieht, kann momentan niemand voraussagen.
Silke Leuckfeld