Seit acht Monaten streiken papierlose Bauarbeiter in Paris, um endlich Aufenthaltsgenehmigungen zu bekommen. Zu Besuch bei Frankreichs neuer Arbeiterbewegung

Mit Hilfe der Gewerkschaft CGT: Besetzung des Luxusrestaurants "La Tour d`Argent"

Sie könnten verhaftet werden, jederzeit. Illegaler Aufenthalt! Ab zur Grenze! Doch sie stehen da ganz ohne Furcht, mitten in Paris, am Place de Roubaix, zwischen einer Litfaßsäule und einem Bistro. Afrikaner mit Anoraks und Mützen, junge, kräftige Gestalten. Jeden Tag stehen sie an dieser Ecke, immer zwei, drei Dutzend, sie stehen in Schichten, von 9 bis 17 Uhr, halten himbeerrote Gewerkschaftsfahnen in den kalten Wind und wärmen sich an gedämpft gemurmelten Geschichten von zu Hause. Zu Hause, das sind ihre staubigen geliebten Dörfer, in Mali, Senegal, Mauretanien.

Unsichtbar liegt ein Schutz über den Versammelten, und er rührt gerade daher, dass sie sich so sichtbar machen: Die Bauarbeiter sind im Streik, seit acht langen Monaten schon. Ein Kollektiv von 88 Mann, acht Monate ohne Lohn, acht Monate an dieser Straßenecke - nur um einen Fetzen Papier zu bekommen. Ein Fetzen Papier, der ihnen erlaubt, legal weiterzumachen, was sie schon lange tun: für die Franzosen Häuser bauen, Schulen, Kaufhäuser.

Wer für seine Rechte kämpft, muss die richtigen Worte finden. Muss das Finstere, Geheime, Aussätzige des Begriffes "Illegale" vertreiben. Sans Papiers nennen sich die Streikenden, Menschen "ohne Papiere". Das klingt im Französischen wie arbeitslos, wohnungslos. Es kann einem zustoßen, es ist kein Verbrechen.

Seit Monaten: Streik der 88 "illegalen" Bauarbeiter vor ihrer Zeitarbeitsfirma MAN-BTP

Djiby Sy, ein hochgewachsener Senegalese, geht von der Place de Roubaix ein paar Schritte in eine schmale Gasse hinein, "MAN-BTP Zeitarbeit" steht auf einem Schild mit kalter Neonbeleuchtung. Die unscheinbare Firma schickte Djiby Sy und seine Kollegen seit Jahren mit Kurzverträgen von einer Baustelle zur nächsten. Die Männer sind gefragt; in seinen sieben Jahren Frankreich habe er keine Woche Urlaub gemacht, sagt Sy. Mit 40 Jahren ist er der ruhige Senior im Kollektiv der Sans Papiers - gleichwohl einer der Initiatoren des Streiks. Er begann am 3. Juli 2008 mit der Besetzung von MAN-BTP. Natürlich passten nicht alle 88 in die kleine Filiale: Sie besteht aus kaum mehr als einem Tresen, über den der Wochenlohn geschoben wird, mit ein bisschen Büro drumherum. Die Streikenden schlugen Zelte auf in der Gasse vor der Agentur.

Die französische Baubranche holt sich einen Gutteil ihrer Arbeitskräfte über diese gesichtslosen Maklerstuben für Zeitarbeit. Im Viertel um den Roubaix-Platz starren sie aus jedem dritten Haus, sie heißen "Interim", "Vox Interim", "Generation Interim" oder "Mega Plus!". Die Kundschaft: meist schwarz, oft Sans Papiers. Auf den Baustellen findet man sie dort, wo es am härtesten und schmutzigsten zugeht. Sy, der Senegalese, erinnert sich an endlose Tage in der lärmenden Vibration des Presslufthammers.

Seit dem 30. September besetzen rund 20 Zeitarbeiter ohne Papiere die Agentur "Vediorbis"

Steuern, aber keine Rechte

Doch es war noch etwas anderes, das ihn bewog, sich aufzulehnen und in den Protest zu stürzen: "Die Monotonie eines Lebens, das nur aus Arbeit besteht - und aus der Angst vor Kontrollen." Und dass er dafür auch noch Steuern zahlen muss. Steuern? Eine Spezialität des französischen Systems: Um an eine Arbeit zu kommen, besorgen sich die Sans Papiers für ein paar hundert Euro einen gefälschten Sozialausweis oder sie melden sich an unter dem Namen eines legalen Cousins. Wie ganz normale Beschäftigte zahlen sie dann Steuern und Sozialabgaben. Zeitarbeitsfirmen, Bauunternehmen, alle wissen Bescheid, winken falsche Papiere und falsche Identitäten durch.

"Manchmal wirst Du unter einem Namen entlassen und unter einem anderen Namen gleich wieder eingestellt", sagt Lassana Soumaré, trockene Ironie in der Stimme. Der Malier verbindet eine wuchtige Statur von fast zwei Metern Größe mit einem Augenausdruck stoischer Sanftheit. Diese Augen haben viel gesehen; Soumaré hat auf dem Weg zu den französischen Baustellen die Sahara durchquert, dann in einer Nussschale das Meer überlebt. Nun ist er einer von vier Sprechern der Streikenden; mit seinen Sahara-Augen war er schon bei Verhandlungen in den feinen Chefetagen von Bauunternehmen.

Menschen ohne Papiere auf einer öffentlichen Kundgebung in Paris

Die absurde Lage eines Sans Papiers hat im Fall Soumaré noch eine besondere Note. Sein Großvater kämpfte als schwarzer Kolonialsoldat für Frankreich im Zweiten Weltkrieg. Der Vater arbeitete 37 Jahre lang legal in Paris. Der Sohn musste durch die Wüste kommen, hatte drei Tage nach seiner Ankunft die erste Arbeit, zahlte an den Staat in den vergangenen Jahren tausende Euro Steuern - und blieb doch ohne Rechte. Denn eine Aufenthaltsgenehmigung gibt es nur gegen Vorlage eines unbefristeten Arbeitsvertrags - einen solchen Vertrag aber gibt es nur mit Aufenthaltsgenehmigung.

Die Zelte der Streikenden sahen den Sommer, dann den Herbst, dann fiel Schnee. Durchzuhalten war das nur durch eine Mischung von afrikanischer Solidarität und einer beinah preußisch anmutenden Disziplin. In den Wohnheimen der afrikanischen Arbeiter verliert niemand sein Bett, der lohnlos im Streik steht. Und ab dem ersten Streiktag herrschte dreimal täglich Zählappell - nur wer dabei anwesend ist, wird als Streikender gerechnet. Mittags 25 Kilo Reisgericht für alle, in einem Afrikaner-Wohnheim gekocht, die Zutaten bezahlt von der Gewerkschaft mit den himbeerroten Fahnen, der kleinen Union Syndicale Solidaires. Jeden Samstag trifft sich ein Komitee französischer Unterstützer, und im Internet begleitet eine Streikzeitung (www.espoirs.info) das zähe Ringen.

Es ist ein Ringen an drei Fronten: Zeitarbeitsfirmen, Bauunternehmen, Staat. Nach mehr als fünf Monaten, kurz vor Weihnachten, endlich ein Durchbruch: Große Baufirmen sichern einem Teil der Streikenden feste Arbeitsverträge zu, für die anderen gibt die Agentur MAN-BTP langfristige Arbeitsgarantien. Auch die Regierung macht Zugeständnisse: Erstmals können sich Zeitarbeiter legalisieren, wenn sich ihre Beschäftigungsverhältnisse zur Dauerarbeit addieren. Als Soumaré und seine Kollegen das Protokoll mit diesen Zusicherungen in Händen halten, packen sie die Zelte ein. Aber sie wissen: Noch ist der Kampf nicht gewonnen. Ihre Anträge liegen nun auf den Polizeipräfekturen; die lassen sich Zeit, entscheiden oft willkürlich. Also stehen die Männer weiter am Place de Roubaix, in Schichten.

Sie sind nicht allein. Ihr Streik gilt als der längste, härteste, bestorganisierte, aber es ist nicht der erste, nicht der einzige. Die neue Arbeiterbewegung der Sans Papiers begann vor knapp einem Jahr. Ermutigt von der CGT, der Conféderation Générale du Travail, Frankreichs zweitgrößtem Gewerkschaftsbund, traten hunderte Papierlose in einem Dutzend Betrieben gleichzeitig in Streik - in Restaurants, Geschäften, Reinigungen. Die Zahl der irregulär Beschäftigten wird in Frankreich auf 300000 bis 800000 geschätzt; bezahlt werden sie oft unter Mindestlohn, trotz Überstunden und Nachtarbeit. Nach einer Studie der französischen Sozialversicherung arbeiten so genannte Illegale in der Küche von jedem zweiten Restaurant im Großraum Paris - im Herzen französischer Lebensart.

"Das ist ein System totaler Heuchelei", sagt die Pariser CGT-Sekretärin Francine Blanche, "und eine enorme Herausforderung für die Gewerkschaften." Blieben sie tatenlos, würden bald ganze Branchen "gewerkschaftliche Wüsten" werden. "Den Sans Papiers dabei zu helfen, sich für ihre Rechte als Beschäftigte zu schlagen, das bedeutet: Sozialdumping bekämpfen. Es nützt allen."

Ein Streik für Papiere - nach jahrelanger Arbeit auf französischen Baustellen

Gegen Sozialdumping

April 2008: Bei "Chez Papa", einer Restaurant-Kette in Paris, sitzen nicht die Gäste unter den Girlanden getrockneter Chili-Schoten, sondern drei Dutzend schwarze Köche, am Kragen das Emblem der CGT. Wie die Bauarbeiter zahlen sie seit Jahren Steuern und Sozialbeiträ- ge. "Sie schuften hier, sie leben hier, sie bleiben hier", steht auf Plakaten und T-Shirts der CGT. In Umfragen stimmt eine Mehrheit der Franzosen zu. Nach 96 Tagen Streik haben die meisten Köche ihre Papiere. Ein Anfangserfolg.

Bei "Chez Papa" vollzieht sich auch eine psychologische Wende. Die Köche, die sich den Kameras des französischen Fernsehens präsentieren, sind die ersten, die Schutz in der Sichtbarkeit suchen. Als zu Beginn des Streiks die Polizei anrückt, sitzt den Migranten noch Furcht im Nacken. "Ihr habt das Recht, euren Arbeitsplatz zu besetzen", erklären die Funktionäre der CGT; die Polizei dürfe sie ohne gerichtliche Verfügung nicht abtransportieren. Tatsächlich ziehen die Beamten ab, eine umstürzende Lek- tion. Die Streikenden haben begriffen: In dem Moment, wo sie Rechte fordern, besitzen sie bereits welche.

Zwei Wochen später, am 1. Mai: Die Sans Papiers tragen ihr neues Selbstbewusstsein auf die Demonstration. Die Franzosen trauen kaum ihren Augen, als sie die Blöcke junger schwarzer Arbeiter sehen, fast 5000 sollen es sein. Gleichheit - diese Idee war in Frankreich lange aus der Migrationsdebatte verdrängt; schien doch Toleranz für Vielfalt schon schwierig genug. In den siebziger Jahren waren Arbeitskämpfe von Migranten durchaus üblich, danach schob sich anderes in den Vordergrund: Rassismus, schulische Integration, Gewalt in den Vorstädten. Mitte der Neunziger begannen Aktionen der Sans Papiers; sie zielten jedoch auf Menschenrechte ab: Die Streiks waren Hungerstreiks, man besetzte Kirchen, nicht Betriebe.

Erst im Frühjahr 2008 beginnt die CGT zu fragen: Wo arbeiten diese Leute eigentlich? Damit korrespondiert ein neues Bewusstsein der Papierlosen - als Arbeitnehmer. "Indem wir seit Jahren ohne Unterbrechung arbeiten, haben wir uns nach unserer Auffassung zur Hälfte legalisiert", heißt es in einer Erklärung der Streikenden von MAN-BTP. "Wir erwarten von der Regierung, dass sie die andere Hälfte des Weges geht." Wer streikt, hat eine Chance - das hat vielen Mut gemacht, manchen auch verfrühte Hoffnung auf eine schnelle Legalisierung. Im Verlauf der vergangenen zwölf Monate sind diverse Streikherde entstanden, niemand scheint einen Überblick über die ganze Bewegung zu haben.

Belagerung der Gewerkschaft

Im großen Versammlungssaal des Pariser Gewerkschaftshauses liegen Matratzen bis vorne zur Bühne. Auch hier, in den Lokalen der CGT, findet eine Besetzung statt, passender ist das Wort Belagerung. Seit Monaten versuchen Papierlose, die Gewerkschaft derart zu mehr Solidarität zu zwingen, zum Einsatz auch für nichtorganisierte Kollegen. Zwei- mal pro Woche kulminiert die Aktion in einem Pfeifkonzert.

Die Kollektive der Sans Papiers fürchten einen Deal, den die Regierung der CGT nahelegte: Ihr bekommt eure Mitglieder legalisiert, wenn ihr die Bewegung beruhigt. Dagegen setzten die Afrikaner das Fanal: Papiere für alle! Anfangs ernteten sie Sympathie, doch bald war die Aktion in der Unterstützerszene umstritten. Und die Funktionäre der CGT tolerieren nur noch grollend die Anwesenheit der afrikanischen Kollegen, die sich mit Säcken von Reis und Zwiebeln bei ihnen einquartierten. "Diese Leute irren sich im Ziel ihrer Angriffe", sagt Raymond Chaveau, CGT-Koordinator für Streiks der Sans Papiers. "Nicht wir, sondern die Polizei vergibt die Papiere." Die CGT bemühe sich seit Monaten, den Besetzern begreiflich zu machen, dass kollektive Aktionen am Ende allen nützten.

Hinter dem Konflikt verbirgt sich eine weitergehende Frage: Kämpfen Gewerkschaften nur für die Rechte jener Migranten, die der nationale Arbeitsmarkt braucht? Dem neigt die große CGT zu. Oder verlangen sie, wie der kleine Gewerkschaftsbund Solidaires, eine "globale Legalisierung" aller heimlich Eingewanderter, jedenfalls solange unfaire Handelsbeziehungen deren Heimatländern Gerechtigkeit verweigern?

Trotz solcher Differenzen hat die französische Bewegung, gemessen an deutschen Verhältnissen, eine geradezu unglaubliche Stärke. Wegen der restriktiven Ausländerpolitik der Regierung gibt es immer mehr gut integrierte "Illegale": Studenten, die ihren Aufenthaltsstatus verloren haben; abgelehnte Angehörige von legalen Migranten; der Scheinehe verdächtigte Partner von Franzosen. ... Sie alle bilden, neben den streikenden Arbeitern, das Rückgrat der neuen Bewegung. Viele Franzosen entdecken für die Sans Papiers wieder die Werte der Republik. Manche Rathäuser organisieren sogar "republikanische Patenschaften" zwischen Bürgern und Migranten: ein symbolischer Akt zum Schutz der Papierlosen - am Rande der Legalität.

Gewiss, es gibt auch Anfeindungen. Der Besitzer einer Reinigung kämpfte mit Chlorbleiche gegen seine streikenden Sans Papiers. Von den Männern bei MAN-BTP wurden mehrere verhaftet; sie kamen nach Protesten schnell wieder frei, niemand wurde abgeschoben. Der Stadtrat des Arrondissements stellte sich hinter die 88 von der Place de Roubaix, und der Priester der nahen Kirche schloss sie in sein Gebet ein.

Einmal wurde einem Anwohner die ganze Sache zu viel, er schüttete an einem kalten Wintertag Wasser hinunter auf die Streikenden. Der Senegalese Djiby Sy stand Posten; der Mann, der jahrelang Angst vor jeder Kontrolle gehabt hatte, zögerte nicht: Er rief die Polizei.

fotos: Fanny, Didier MAILLAC, Baptiste FENOUIL (alle REA/laif)

Papierlose in Deutschland

In Deutschland arbeiten vermutlich noch mehr Menschen ohne gesicherten Aufenthalt als in Frankreich: geschätzt etwa eine Million. Seit 2003 können sie Mitglied bei ver.di werden, seit 2008 unterhält ver.di Hamburg "MigrAr", die erste gewerkschaftliche Anlaufstelle für Papierlose, gemeinsam mit 20 Organisationen aus dem Bereich Migration. Im Fall einer Peruanerin, die jahrelang unterbezahlt in einem reichen Hamburger Haushalt arbeitete, hat ver.di erstmals die Klage einer so genannten "Illegalen" vor Gericht unterstützt und eine hohe Lohnnachzahlung erreicht. Dies ist "ein Pilotfall für weitere Verfahren", sagt Peter Bremme, bei ver.di Hamburg zuständig für "undokumentierte Arbeit". "Der Kampf für die Rechte der Papierlosen ist in einer globalisierten Welt auch ein Zukunftsmoment", sagt Bremme, "lebenswichtig für Gewerkschaften." Im Berliner Hauptsitz von ver.di besteht seit jüngstem gleichfalls eine Anlaufstelle. Barbara Miranda vom Berliner "Arbeitskreis Undokumentiertes Arbeiten": "Auch wer ohne Papiere arbeitet, hat einklagbare Rechte." E-Mail: ak-undokumentierte-arbeit.berlin@verdi.org und migrar.hamburg@verdi.de

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