Frauen zahlen zurück

Hans Reitz (Hrsg.): The Power of Dignity - Die Kraft der Würde | Vor fast 20 Jahren änderte sich das Leben von Bina Shaha grundlegend. Bis dahin war sie bitterarm. Trotz äußerst harter Arbeit hatte die Frau aus Bangladesch nie etwas zurücklegen können. Dann bekam sie ihren ersten Kredit: 20 Euro. Dafür kaufte sie alles, was für eine kleine Juteproduktion notwendig war. Neun Jahre dauerte es, bis sie und ihre Familie die extreme Armut hinter sich gelassen hatten. Inzwischen lebt sie von einem kleinen Laden, den ihr Sohn und die Schwiegertochter betreiben und der dank eines neuen 100-Euro-Darlehens deutlich wächst.

Die 72-jährige Bina Shaha ist eine von acht Millionen vorwiegend weiblichen Kreditnehmern der Grameen Bank. Sie stehen im Zentrum dieses sehr beeindruckenden Bildbands. Die Fotos von Roger Richter und die Texte von Peter Spiegel zeigen einen ungewöhnlichen Blick auf Armut: Selbstbewusste Menschen sehen in die Kamera, geschildert werden ihre Pläne und erstaunlichen Erfolgsgeschichten. Auch die Grameen Bank, die die Mikrokredite vergibt, ist ein extremer Kontrast zu dem, was man sonst mit einer Bankzentrale assoziiert: Die Ausstattung ist überaus schlicht, und die Chefs sitzen in ähnlichen Räumen wie die Servicekräfte.

Der Gründer der Bank, Muhammed Yunus, kommt nicht aus dem Elend. Doch als Ökonomieprofessor beklemmte es ihn, an Verhungernden vorbei zur Vorlesung zu gehen, wo er der jungen Wirtschaftselite seines Landes beibringen sollte, wie sie sich künftig bereichern könnte. Das Geldhaus, das er danach aufbaute, ist in jeder Beziehung außergewöhnlich. Wer hier zum ersten Mal einen Kredit haben will, darf über keinerlei Sicherheiten verfügen. Denn die Bankmitarbeiter haben festgestellt, dass genau solche Menschen das Geld am zuverlässigsten zurückzahlen: Sie wollen diese einmalige Chance nutzen. Tatsächlich liegt die Tilgungsquote bei 98 Prozent - so hoch wie nirgendwo sonst. Während Banken normalerweise großen Wert auf Diskretion legen, werden bei der Grameen Bank alle Kreditverträge auf dem Dorfplatz abgeschlossen. Das verhindert Korruption und schafft Vertrauen.

95 Prozent der Vertragspartner sind Frauen - die meisten von ihnen Analphabetinnen. Doch ihre Kinder gehen zur Schule, nicht wenige studieren. Darüber hinaus haben sich die Kleinkredite als bestes Mittel zur Familienplanung und Frauenförderung erwiesen, ohne dass dies anfangs geplant war. Eine andere Welt ist tatsächlich möglich - das führt dieses Buch vor Augen.

Annette Jensen

Fotos: Roger Richter, Text: Peter Spiegel, J. Kamphausen Verlag 2008, 220 Seiten, 39,80 €


Louise Erdrich: Solange du lebst Im US-Bundesstaat North Dakota leben etwa 95 Prozent Weiße und vier Prozent Indianer. Louise Erdrich sucht seit Beginn ihrer Schriftstellerkarriere inmitten dieser weißen Übermacht nach der Geschichte ihrer roten Ahnen. Weiße hat sie auch, ihr Vater ist Deutschamerikaner. Rätselhaft gemischt ist auch die Geschichte dieses Romans, durchzogen von einem dichten Gewebe wechselseitiger Beziehungen. Am Anfang steht eine alte Schuld: der Lynchmord an drei unschuldigen Ojibwes Ende des 19. Jahrhunderts. Deren Nachfahren finden sich nun wieder in merkwürdigen Beziehungen zu den Enkeln der damaligen Täter. Das Buch geht von einer Rahmengeschichte der Ich-Erzählerin in der Gegenwart aus, weitere Familienepisoden zweigen hier ab und verknüpfen sich kunstvoll mit der Geschichte des Großvaters Mooshum. In diesem offenen Episodenroman über die geschlossenen Gesellschaften North Dakotas findet sich auch das Thema religiöser Fundamentalismus. Hier ist es eine eindrucksvolle Geschichte über den Armageddonprediger Billy Peace und seine Frau, die mit Giftschlangen tanzt. Dieser Roman ist Erdrichs literarischer Protest gegen die Gewalt der Verhältnisse.

ZÄH

Roman. Ü.: Chris Hirte, Insel Verlag 2009, 397 S., 22,80 €


Marnelle Tokio: Nichts leichter als das | Diese Überlebensgeschichte einer Magersüchtigen beginnt in einer Klinik für Essgestörte, wohin es die 17-jährige Marty verschlagen hat. Auf die Frage der Betreuerin antwortet das Mädchen mit einem ausführlichen Wutausbruch: "Wie es mir geht, ohne Schlankheitspillen, ohne Cola light und ohne Kaffee...?" Sie will sofort wieder weg, in das Leben zu Hause, das doch unlebbar für sie geworden war, aber in dem sie wenigstens selbst bestimmt, was sie isst: möglichst nichts. Ihre Mitpatientinnen durchschaut sie mühelos, sich selbst nur teilweise. Und so lehnt sie sich aggressiv gegen das ganze System der Hilfe auf, gegen die Regeln und Helfer, begreift aber erst nach und nach, auf wen sie wirklich wütend ist. Marty nimmt die achtjährige Lily unter ihre Fittiche, und das hilft ihr selbst. Als diese jüngste Leidensgenossin stirbt, stürzt Marty in die Verzweiflung, und es scheint, dass sie auch ihren eigenen Kampf verloren gibt. Doch gerade der Tod einer anderen wird zum Wendepunkt. Die kanadische Autorin Marnelle Tokio erzählt die Geschichte mit grimmigem Humor und vielen berührenden Momenten als einen Kampf zurück ins Leben.

Klix

Jugendbuch, Ü.: Martina Tichy, Carlsen VERLAG 2009, 286 S., 9,95 €


Eva Karnofsky: Die Straße der Tugenden / Eine kubanische Familienchronik | 50 Jahre kubanische Revolution: Hochzeit für Analysen und Diskurse. Wer dazu keine Lust hat, ist mit diesem Roman besser dran: Die Autorin war 20 Jahre Lateinamerikakorrespondentin und ist mit einem Kubaner verheiratet. In Karnofskys Roman erzählt ein deutscher Schriftsteller, der Groschenromane schreibend auf Kuba lebt, tagebuchartig während der Jahre 1993 bis 1998 in Rückblicken die Geschichte der mit ihm befreundeten Bauernfamilie Perez Valdez seit 1959. Während bitterer Mangel und politische Desillusion den Alltag der 90er Jahre beherrschen, erinnern die Frauen der Familie sich an das Glück kostenloser Schulen und Universitäten, an ihren Bildungshunger, an Hoffnung und revolutionäres Engagement. Symbol für den Niedergang der Revolution ist die dritte Tochter, 1959 geboren, Tänzerin, Akademikerin, 1993 an mangelnder medizinischer Versorgung gestorben. Karnofsky erzählt einfach, schnörkellos, mit Sympathie für die Frauen und Kuba, spinnt souverän eine Liebesgeschichte und die Wandlung des Chronisten zum seriösen Schriftsteller. Mit einem Zeitsprung ins Jahr 2008 entlässt sie uns und ihre Protagonisten am Ende ratlos und wenig zukunftsfroh.

UL

Horlemann Verlag, 350 S., 19,90 €