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Das wilde Leben

Joseph O'Connor: Wo die Helden schlafen | Erstaunlich, wie dieser Dubliner Autor seinen Stoff im Griff hat. Die ausgeklügelte Form dieses Romans aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs führt so zwingend am komplexen Geschehen entlang, dass man dem nicht nur willenlos folgt, sondern inspiriert beginnt, mit dem Stoff zu arbeiten, zurückzublättern, bestimmte Passagen zu rekapitulieren. Denn statt eines Erzählers sind Briefe die fiktiven Quellen, irische Balladen und Augenzeugenberichte, Fußnoten, Protokolle von Gerichtsverhandlungen, Zeitungsartikel, Aussagen von Sklaven, alles fügt sich zu einem vielstimmigen Epos auf großer Leinwand zusammen.

Vier zentrale Figuren schälen sich heraus. Gemeinsam mit Eliza Mooney betreten wir das terra inkognita dieser Erzählung. Es ist kurz vor Kriegsende. Auf der Suche nach ihrem kleinen Bruder stolpert das junge Mädchen aus dem Süden barfuß und mehr tot als lebendig durch unbekanntes Gebiet der neu Vereinigten Staaten. Noch bildet der Globus dieses dünn besiedelte Land als weißen Flecken ab. Eliza wird inmitten völliger Anarchie Schlimmeres erleben, als man bereit ist, sich auszumalen.

Gouverneur O'Keefe, ein berühmter irischer Freiheitskämpfer und sympathischer Hochstapler, kann lange von seinem in Balladen festgehaltenen Ruhm zehren. Doch als idealistischer General einer Yankee-Brigade im Kampf für die Verfassung versagt er im entscheidenden Moment. Um ihn aus dem Verkehr zu ziehen, wird er als Gouverneur in einer gottlosen Gegend im Westen kalt gestellt. Ihm dorthin zu folgen, überredet er seine Frau Lucia, eine schöne Dichterin aus New York. Sie sucht Freiheit in der Dichtung; mit ihrem Mann verbindet sie nur noch die Streitsucht.

Jeddo Mooney, elf Jahre alt, der kleine Bruder Elizas. Vom Krieg aufgesaugt wie damals hunderttausende Kindersoldaten, begleitet er als Trommler eine Rebellenarmee der Südstaatler durch blutigste Schlachten. Dem Leser nehmen die Schilderungen dessen, was er sieht, den Atem. Dem Jungen nehmen sie die Stimme.

Alle vier werden sich begegnen im Verlauf dieser an historischen Details und Irreführungen reichen Erzählung. Viele weitere Urgestalten mit prallen Lebensläufen kommen hinzu: Bergleute, Einwanderer, ein Kartograph, Räuberbanden, Sezessionisten, Yankees; Aussagen widersprechen sich, Intrigen werden gesponnen, Dinge nehmen ihren Lauf. Und nach einer atemlosen Lektüre, die kein Privatleben mehr duldet, belohnt und überrascht Joseph O'Connor, der übrigens der Bruder von Sängerin Sinéad ist, noch einmal mit einem Donnerschlag in der buchstäblich allerletzten Zeile.

Jenny Mansch

Roman, S. Fischer Verlag, Ü: M. Allié/G. Kempf-Allié, 556 S., 22, 95 €


Lobby Planet Berlin: Der Reiseführer durch den Lobbydschungel | Etwa 5000 Lobbyisten sind in Berlin unterwegs. Neben vielen Verbänden haben auch 100 Großunternehmen Büros rund um die Ministerien und den Reichstag eröffnet, um gezielt ihre Interessen zu vermitteln - diskret, versteht sich. Diese Politik leuchtet Lobby Control seit ein paar Jahren erfolgreich aus. Jetzt hat die Organisation einen Berliner Reiseführer herausgegeben. Auf unterhaltsame Weise erfahren die Nutzer nicht nur, wer sich hier alles tummelt: Das Spektrum reicht vom "Arbeitgeberverband Neue Brief- und Zustelldienste" über EON bis hin zu Greenpeace. Interessant sind vor allem die Infos zu den einzelnen Institutionen und deren Einflussversuchen. Die Methoden reichen von der Platzierung von Vertretern der Pharmaindustrie im Gesundheitsministerium bis hin zur Gründung von angeblichen Graswurzel-Initiativen. Dagegen lenken die Bertelsmann-Stiftung und die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" durch aggressive Öffentlichkeitsarbeit und Studien die politische Meinung im Land. Ein solcher Reiseführer erhellt nicht nur beim Stadtspaziergang, sondern auch auf dem Sofa.

AJE

Politischer Reiseführer, 170 S., zu bestellen über www.lobbycontrol.de, 7,50 €


Ruth Johanna Benrath: Rosa Gott, wir loben dich | Marie hat es schwer. Wenn sie sich zu Weihnachten eine Barbie wünscht, wird sie stattdessen mit einem zwölfbändigen Brockhaus beglückt. Und die strenge christliche Erziehung macht es nicht leichter, in die Pubertät einzutreten. Da die verrückte Mutter unfähig ist, Aufklärung zu bieten, wird Marie an den Vater verwiesen. Der weltfremde Lehrer speist Marie - nach einer hilflosen Einleitung über die magnetische Anziehungskraft der Geschlechter - mit der Warnung ab: Man dürfe sich aber nicht frühzeitig vom Gesetz der Nacht hinreißen lassen. Das besonders Originelle, Komische und sehr Berührende an diesem Buch ist die musikalische Form, in der Zitate in den Text verwoben sind. Das gilt auch für die Stellen aus der Bibel - ein Buch, das für Marie nicht nur ein Unterdrückungsinstrument ist, sondern auch ein üppiger Fundus von Bildern, aus dem sie anfangs noch ohne eigene poetische Sprache schöpft. Aber nach einem Selbstmordversuch beginnt sie, sich nach und nach von dem, was andere von ihr wollen, zu befreien. Selbst ihre erste Liebe geht damit schon zu Ende. "Hinaus muss ich noch weit" - das zumindest weiß Marie jetzt.

Klix

Roman, Steidl Verlag, 2009, Göttingen, 176 S., 16 €