Katharina Erdmenger leitet das DGB-Verbin- dungsbüro in Brüssel

ver.di PUBLIK | Warum sollten Gewerkschaftsmitglieder zur Europawahl gehen?

KATHARINA ERDMENGER | In den letzten Legislaturperioden hat das EU-Parlament entscheidende Verbesserungen für Beschäftigte erreicht. So hat es den Vorschlag der EU-Kommission zur Dienstleistungsrichtlinie positiv verändert. Auch bei der Frage, ob für alle Beschäftigten an einem Ort das gleiche Lohnniveau gelten soll, hat sich das Parlament mehrfach auf unsere Seite gestellt. Gleiches gilt für die jüngste Debatte zur Arbeitszeitregelung. Zumindest in seiner jetzigen Zusammensetzung hat das EU-Parlament immer wieder Mehrheiten für eine arbeitnehmerfreundliche Politik zusammengebracht. Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass sich das fortsetzen kann.

ver.di PUBLIK | Gegenwärtig ist die konservative Fraktion die größte im EU-Parlament. Trotzdem gilt das Parlament als die progressivste Institution der EU. Wie kommt das?

ERDMENGER | Das war in den vergangenen fünf Jahren wirklich so. Das EU-Parlament stützt keine Regierung und kann deshalb sachbezogen nach Mehrheiten suchen. Außerdem gibt es keinen Fraktionszwang und die Blöcke sind viel vielfältiger als auf nationaler Ebene. So sind zum Beispiel Teile der christdemokratischen Parteien in Belgien, Frankreich und Italien traditionell sehr arbeitnehmerfreundlich und haben oft dazu beigetragen, die Vorschläge der Kommission in diese Richtung zu verändern. Umgekehrt verfolgen manche polnischen Sozialdemokraten oft einen hart neoliberalen Kurs. Damit befinden sie sich dann im totalen Gegensatz zu ihrer eigenen Fraktion, die die treibende Kraft bei vielen Verbesserungen im Sinn der Arbeitnehmer/innen ist. Diese Vielfalt macht das Europaparlament sehr interessant und Abstimmungsergebnisse sind nicht immer vorhersehbar.

ver.di PUBLIK | Welche großen Themen gehören in der nächsten Legislaturperiode auf die Tagesordnung?

ERDMENGER | Entscheidend ist der Umgang mit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitnehmerentsendung. Die Richter haben ja mehrfach Lohndumping für legal erklärt. Das muss dringend geändert werden - und das jetzige Parlament hat auch im Herbst ein deutliches Votum in diese Richtung abgegeben. Es hat zwar nicht die Möglichkeit, selbst eine entsprechende Regelung zu initiieren - das kann nur die Kommission. Aber im Sommer wird das Parlament alle vorgeschlagenen EU-Kommissare anhören und könnte sie auch ablehnen. Zumindest in der gegenwärtigen Zusammensetzung des Parlaments wäre klar, dass der Kandidat für das Amt des EU-Sozialkommissars einen neuen Vorschlag für das Entsenderecht und die Arbeitszeitregelung zusagen müsste, sonst würde er wohl abgelehnt. Darüber hinaus hat die Regulierung der Finanzmärkte und der Rating-Agenturen hohe Priorität.

ver.di PUBLIK | Wie müsste eine arbeitnehmerfreundliche EU-Politik aussehen?

ERDMENGER | Ein wichtiger Schritt dahin sind gesetzliche Mindeststandards. Lange Zeit ist europäische Politik auch darauf ausgerichtet gewesen. Aber dieser Grundsatz ist in den letzten Jahren immer weiter in Frage gestellt worden - nicht nur durch die EuGH-Urteile. So wollte der Rat in der Debatte um die Arbeitszeit bei der Anrechnung von Bereitschaftsdiensten eine Verschlechterung für die Beschäftigten durchsetzen, ist damit aber am Parlament gescheitert. Wir fordern, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen in der EU nach oben hin angeglichen werden und nicht nach unten.

ver.di PUBLIK | Ein europaweiter Mindestlohn?

ERDMENGER | Natürlich kann man nicht fordern, dass es europaweit den selben Mindestlohn geben sollte. Das würde sehr viele Verlierer produzieren, denn heute gelten zum Beispiel in Rumänien 50 Cent pro Stunde und in Luxemburg für manche Facharbeiter elf Euro. Aber wo sich alle europäischen Gewerkschaften einig sind, ist, dass dieses Lohngefälle nicht ausgenutzt werden darf. Auch die Osteuropäer sehen das so. Denn für die polnischen Beschäftigten stellt sich ein in Polen arbeitender Rumäne genauso dar wie für die deutschen Beschäftigten ein Pole, der in Deutschland arbeitet. Außerdem sind sich die Gewerkschaften einig, dass es gar nicht einzusehen ist, warum ausländische Beschäftigte unter schlechteren Bedingungen arbeiten sollten als einheimische. Überall muss der Grundsatz gelten: Wir brauchen gerechte Löhne für jede Arbeit, und es darf nirgendwo in Europa so sein, dass man vom Lohn seiner Arbeit nicht leben kann.