Hoch hinaus beim Europafest in Berlin 2007

Marktfreiheit über alles?

Am 7. Juni wird das neue EU-Parlament gewählt. Wird es durch eine hohe Wahlbeteiligung gestärkt, steigt die Chance, dass sich die EU in Richtung Demokratie und Bürgerrechte entwickelt. Bekommen die Abgeordneten nur wenig Rückhalt der Bevölkerung, droht die Wettbewerbsideologie dominant zu bleiben

Von ANNETTE JENSEN

Als die Union 1957 unter dem Namen Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde, war ein Parlament nicht vorgesehen. Wie der Name schon sagte, ging es um die Förderung eines gemeinsamen Marktes. Den zu organisieren war und ist Aufgabe der Kommission, über deren Zusammensetzung die Regierungen der Mitgliedsländer entscheiden. In der "Gemeinsamen Versammlung" saßen dagegen zunächst nur ein paar Abgeordnete aus den nationalen Parlamenten, die nichts zu sagen hatten. "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa", spottete die Bevölkerung.

Immer mehr Einfluss

Doch seit den ersten Direktwahlen 1979 ist es dem Europaparlament gelungen, sich mit Hartnäckigkeit immer mehr Einfluss zu erkämpfen. Bei der Verteilung der EU-Gelder haben die Abgeordneten heute das letzte Wort - mit Ausnahme der Agrarsubventionen. Auch bei der Verabschiedung von Verordnungen und Richtlinien dürfen die Volksvertreter inzwischen in vielen Bereichen genauso viel bestimmen wie der Ministerrat, in dem Vertreter der 27 Regierungen sitzen. Das reicht vom Verbot gefährlicher Pestizide über die EU-weite Anerkennung von Universitätsabschlüssen bis hin zu gemeinsamen Grundsätzen für Versicherungen. In allen Fragen, die Umwelt- und Verbraucherschutz sowie den Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr betreffen, ist das EU-Parlament heute gleichberechtigt beteiligt. Gerade die letzten Bereiche sind aus gewerkschaftlicher Sicht zentral.

Doch von einer wirklichen Demokratie ist die EU noch weit entfernt. So besitzt das Parlament kein Initiativrecht: Allein die EU-Kommission kann Vorschläge machen, was überhaupt gemeinsam geregelt werden soll. Zwar dürfen die Parlamentarier die Kommission auffordern, eine Regelung auf den Tisch zu bringen. Doch ob sie das tatsächlich tut, ist nicht gesagt. Dabei hat die Kommission als offizielle EU-Regierung eine äußerst schwache demokratische Legitimation. Die Regierungschefs aller EU-Länder bestimmen zunächst einen Kommissionspräsidenten. Dem schlägt jedes Land anschließend einen Kommissar vor und benennt auch ein Wunschressort, die fachliche Qualifikation spielt dabei oft eine untergeordnete Rolle. Die Vertei-lung der Posten liegt dann beim Kommissi- onschef. Das EU-Parlament kann den Kandidatinnen und Kandidaten dann nur noch zustimmen - oder sie ablehnen.

Darüber hinaus krankt die EU-Politik an einer grundsätzlichen Schieflage: Während die Kompetenzen für den Binnenmarkt und die Währung heute in Brüssel liegen, sind die Nationalstaaten weiter für Steuerpolitik und die soziale Sicherung zuständig. "Es sind diese beiden nicht miteinander verbundenen Eckpfeiler der Wirtschafts- und Sozialverfassung der EU, die für die abhängig Beschäftigten äußerst negative Konsequenzen mit sich bringen", heißt es im ver.di-Manifest zur Europapolitik. Um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, haben sich viele Länder beim Abbau der sozialen Sicherung und beim Steuersenken gegenseitig überboten. Einer solchen Entwicklung massiven Vorschub geleistet hat der Europäische Gerichtshof (EuGH), das Gremium mit der geringsten demokratischen Legitimation auf EU-Ebene. In mehreren Urteilen bewerteten die Richter die Marktfreiheit höher als die Grundrechte von Beschäftigten - ja sogar die Menschenwürde müsse "in Einklang mit Wettbewerb und Marktfreiheit" gebracht werden. Streikrecht, Meinungsfreiheit und Tarifautonomie drohen in einer solchen Perspektive auf der Strecke zu bleiben.

Mehr Demokratie schaffen

Trotz alledem plädiert ver.di nicht dafür, die Kompetenzen auf die Ebene der Nationalstaaten zurückzuverlegen. Im Gegenteil: Die EU muss demokratischer werden und sollte dann längerfristig auch mehr Sozial- und Finanzhoheit bekommen. Deshalb setzt ver.di sich dafür ein, dass die EU-Kommission mittelfristig vom Parlament gewählt wird und ihm auch verantwortlich ist. Darüber hinaus sollten die Abgeordneten die Möglichkeiten haben, Gesetze selbst auf den Weg zu bringen.

Nur wenn es gelingt, das bisher in den EU-Verträgen fest verankerte marktliberale Modell in das Leitbild eines sozialen Europas zu wandeln, ist die Entfremdung von EU und Bevölkerung zu überwinden. Damit eine solche Perspektive überhaupt eine Chance hat, sollten am 7. Juni möglichst viele Leute zur Wahl gehen.

Einem sozialen Europa Zukunft geben, das ver.di Manifest zur Europapolitik gibt es unter:https://international.verdi.de