Wahlverwandtschaften

Manchmal machen Texte ratlos. Da liegt das Buch, es ist Samstag, die Uhr tickt und draußen regnet's. Stille. Es handelt sich um Jan Fleischhauers Buch: Unter Linken. Von einem, der aus Versehen konservativ wurde. Eine Mixtur aus neoliberalen Klischees und biografischen Anekdoten, lackiert mit dem modischen Chic des "68er-Bashings". Letzteres hat Villenviertel-Jan mit Gutmenschen-Kai gemeinsam. Der hat unter seinem bürgerlichen Namen Kai Diekmann ebenfalls ein Buch geschrieben - Der große Selbstbetrug - in dem er sich gleichfalls auf "68er" einschießt, nur heißen sie hier "Gutmenschen". Kai Diekmann ist 1964 geboren und Chefredakteur der Bildzeitung. Jan Fleischhauer ist 1962 geboren und Redakteur beim Spiegel, und diese Bücher geben Auskunft über das Denken von Medien- Männern in den Vierzigern.

Bei Villenviertel-Jan geht die Klage darum, dass dort, wo er aufgewachsen ist - eben ein Hamburger Villenviertel - "alle links" waren. Allen voran die Eltern, die dem Buben politisch nicht-korrekte Lebensmittel (Coca-Cola) verweigern. Auch hält sich Villenviertel-Jan selbst lange Zeit für links, was ihn nicht daran hindert, schließlich "konservativ" zu werden. Welch Kampf: "Ich war erschrocken über mich selbst, aber auch ein klein wenig stolz."

Das Buch ist freilich eher der Provokanten-Riegel für zwischendurch als eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit der Geschichte der Linken und quasi eine Mogelpackung, was den Titel angeht. Denn die "Linke", auf die eingedroschen wird, ist wie der Autor selbst schreibt, eine "begriffliche Fiktion", "ein Milieu, das mir seit meiner Kindheit vertraut ist". Das Buch beginnt mit der Mutter des Autors und hört mit ihr auf, und wieder könnte man abschließend murmeln: Soso.

Wäre da nicht dieser Hang zu einer Art meskalingetönten Wahrnehmung der Welt: "Die Linke hat gesiegt, auf ganzer Linie." Eine derartige Zustandsbeschreibung hat die Kühnheit des Einsamen. Auch dazu könnte man schweigen, bliebe nicht die Eifrigkeit, mit der uns der Autor die alten Versatzstücke neoliberaler Ideologie herunter-betet. Und auch hier ist wieder nur die so dokumentierte Seelenverwandtschaft zwischen Spiegel(Redakteur) und Bildzeitung(s-Chefredakteur) rezensionswürdig. Etwa wenn beide sich einig sind in der Ablehnung des 2006 in Kraft getreten "Gleichbehandlungsgesetzes" und der Kritik des Sozialstaates ("Hängematte").

Und auch an dieser Stelle könnte man sich nun fragen, warum unsere beiden Sozialzyniker noch einmal die Verse der neoliberalen Gebetsmühlen aus gefühlten 10 000 Talkshow-Stunden mit Sabine Christiansen von sich geben. Will man aber nicht. Es reicht zu konstatieren: Die geistige Welt des Spiegel ist von jener der Bildzeitung nur noch um Nuancen entfernt. Rudolf Stumberger

Jan Fleischhauer: Unter Linken. Von einem, der aus Versehen konservativ wurde, Rowohlt Verlag, 352 S., 16,95 € / Kai Diekmann: Der große Selbstbetrug - Wie wir um unsere Zukunft gebracht werden, Piper Verlag, 253 S., 8 €


Jutta Profijt: Kühlfach 4 | Kann das gut gehen? Die höchst lebendige, krakelige und nervige Seele eines Ermordeten lärmt im Ohr des ihn sezierenden Rechtsmediziners herum, damit dieser seinen Mörder findet? Eine höchst originelle Idee, denkt die Leserin, aber ist das nicht ein Gag, der sich schnell tot läuft - im wahrsten Sinne? Tut er nicht, denn der Mönchengladbacher Autorin Jutta Profijt gelingt es, die im Kölner Rechtsmedizinischen Institut herumsausende Seele eines kölschen Kleinkriminellen mit so vielen Facetten auszustatten, dass man zwischendurch vergisst, dass Pascha gar nicht mehr lebt - ohne dass die Autorin je die Sphäre seiner flüchtigen Existenz verlässt.

Dass dieser mit trockener Lakonie geschriebene, äußerst witzige Krimi auch als Krimi funktioniert, liegt an den authentisch geschilderten Schauplätzen und glaubwürdig dargestellten Charakteren der Kölner Halb- und Unterwelt und den wohldosierten Zutaten einer temporeichen Gaunerkomödie mit guten Slapstickelementen: Schrulliger, unbescholtener Bürger (Rechtsmediziner Dr. Martin Gänsewein) lässt sich höchst widerwillig auf Mördersuche ein, begibt sich in unbekanntes Milieu und dort selbst in große Gefahr, entdeckt völlig ungeahnte Fähigkeiten (und auch die Liebe) und findet, leicht ramponiert, den Mörder. Das ist spannend, melancholisch und komisch - aber nie albern. UL

Krimi. dtv, 256 Seiten, 9,95 €


Mo Yan: Der Überdruss | Hauptfigur dieses großen China-Romans ist Ximen Nao, ein Grundbesitzer aus der nordostchinesischen Provinz Shandong. Er ist mit Bai Shi verheiratet und hat zwei Nebenfrauen. Das ist in den 1950er Jahren (Bodenreformkampagnen und "Großer Sprung nach vorn") nicht so gut: an einer Brücke vor dem Dorf wird er erschossen. Doch erhört ihn der Totenfürst Yama und schickt ihn zurück auf die Welt - als neugeborenen Esel.

Das schlechte Karma wird ihm weitere Wiedergeburten einbringen und uns eine Reihe fabelhafter Erzähler: von 1954 bis 1964 lebt er als Esel bei den Nachkommen des Ximen Nao, die nächsten zehn Jahre als Stier, dann zehn als Schwein und weitere zehn Jahre als Deutscher Schäferhund. Am Ende wird er als Affe wiedergeboren, bevor er tatsächlich am Ende wieder ein Mensch werden kann. Der findet sich am Ende des Romans in einer Situation, wo es den skrupellosen Machteliten mehr und mehr um die Sicherung privater Reichtümer geht und alle Opfer sich als vergebens erweisen.

Mo Yan schreibt seinen historisch-fantastischen Roman in einer saftig-derben Sprache, die an plebejisch-groteske Traditionen erinnert, und das hat diesem brisanten China-Geschichtsroman keinesfalls geschadet. ZÄH

Roman. Aus d. Chin. Martina Hasse. Horlemann Verlag 2009, 960 Seiten, 29,90 €


Christoph Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein | Eine Kampfschrift "für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens" hat Christoph Schlingensief mit dem Protokoll seiner eigenen Krebserkrankung verfasst. Das großartige Buch ist radikal ehrlich, was bei einem Künstler, der sich nie versteckt hat, nicht wirklich überrascht, aber es ist auch radikal in seinem Rückblick auf das eigene Leben.

Als Schlingensief nach der erhaltenen Krebsdiagnose seinen Schock langsam zu verarbeiten beginnt und das neue Verhältnis zur Zukunft, schreibt er: "Und ich lebe doch so gerne." Doch im nächsten Absatz heißt es gleich: "Aber vielleicht habe ich auch nicht richtig gelebt, vielleicht habe ich nur sehr viel Hektik verbreitet." Dieser wunderbare Humor, der in diesem Buch meist mit der Selbstkritik Hand in Hand geht, eröffnet viele neue Perspektiven, nicht nur auf das eigene Leben und dessen Gefährdung.

Der rastlose Theatermann Schlingensief entdeckt in der Krankheit "Die Freiheit, Neues denken zu können, auch neuen Unsinn." Das gilt auch für seinen Glauben, den der Katholik Schlingensief einigen sehr originellen Prüfungen unterzieht und auf seine bekannt unkonventionelle Art doch daran festhält. KLIX

Kampfschrift. Verlag Kiepenheuer und Witsch, 254 Seiten, 18,95 €