Frauen auf dem Sozialforum: Sie liefen in einem eigenen Block

Von CLAUDIA WANGERIN

„Freiheit oder nichts – ein anderes Mesopotamien ist möglich” – das war das Motto des dreitägigen Mesopotamischen Sozialforums, das am 26. September in Diyarbakir eröffnet wurde. Mesopotamien, „Zweistromland”: die heutigen Gebiete des Irak, ein Teil Syriens, der Südosten der Türkei. Rund 10 000 Menschen aller Generationen kamen zur Demonstration, die das Forum eröffnete. Treffpunkt war der Sümerpark in der kurdischen Großstadt, wo die Hauptverwaltung für soziale Dienste der Stadtverwaltung ihren Sitz hat. Gastgeber war die prokurdische DTP (Partei für eine demokratische Gesellschaft), die bei den Kommunalwahlen in Diyarbakir die absolute Mehrheit erreicht hatte. Ziel des Sozialforums sei es, Ausbeutung und Unterdrückung und „jegliche Diskriminierung im Mittleren Osten und in Mesopotamien zu beseitigen”, sagte die Menschenrechtsanwältin Reyhan Yalcindag. Drei Tage lang ging es in Workshops und Podiumsdiskussionen um soziale, ökologische und feministische Perspektiven. Teilnehmer/innen waren aus der Westtürkei und Syrien, dem Iran, Irak und Palästina, Frankreich, Italien und anderen europäischen Ländern angereist. Aus Deutschland kamen ver.di-Mitglieder und antifaschistische Gruppen.

Es war das erste internationale Sozialforum im Mittleren Osten. Die Gewerkschafter nutzten es, um sich für eine politische Lösung des türkisch- kurdischen Konflikts einzusetzen. Sie forderten mehr Rechte für die Kurd/innen als größte nationale Minderheit und eine umfassende Demokratisierung der Türkei, wozu die Stärkung der Kommunen, Meinungs- und Pressefreiheit gehören. Mehr als 200 Organisationen hatten zum Forum aufgerufen, darunter die im Dachverband KESK organisierten Gewerkschaften der öffentlichen Dien-ste, der Menschenrechtsverein IHD und zahlreiche Kommunalverwaltungen der DTP. Dennoch waren vor dem Forum neben Gewerkschaftern und Aktivistinnen der Frauenbewegung mehrere DTP-Mitglieder von der türkischen Polizei verhaftet worden. Offizielle Begründung war meist die Nähe zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Nach den Verhaftungswellen

Die größte Repressionswelle in diesem Jahr hatte kurz nach dem Wahlerfolg der DTP bei den Kommunalwahlen im März stattgefunden. Rund 700 Personen wurden damals verhaftet und sitzen zum Teil immer noch in den überfüllten Gefängnissen. Eine kleinere Verhaftungswelle zwei Wochen vor dem Sozialforum traf 19 Personen, die an der Vorbereitung beteiligt oder als Moderatoren eingeplant waren.

Diyarbakir ist eine Stadt voller Kontraste zwischen Tradition und Moderne. Die Bevölkerung hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdreifacht und die Millionengrenze überschritten, was nicht nur an der Geburtenrate liegt, sondern auch an den kurdischen Inlandsflüchtlingen, die in den 90er Jahren von der türkischen Armee aus ihren Dörfern vertrieben wurden und in den Armenvierteln der Stadt leben.

Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 prägten Unterdrückung und Gewalt den Alltag. Tausende Linke und Gewerkschafter verschwanden. Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen waren auch in den 90er Jahren an der Tagesordnung. In manchem Gewerkschaftsbüro hängt heute eine Galerie mit Bildern ermordeter Kollegen. Zum „Schutz der Einheit des Landes” griffen Polizei und Militär besonders hart gegen die kurdische Opposition durch. 1984 nahm die PKK den bewaffneten Kampf gegen das Regime auf, doch seit rund zehn Jahren fordert die PKK keinen eigenen Staat mehr und zeigt sich verhandlungsbereit. In den letzten Jahren hat in der Türkei ein zaghafter Demokratisierungsprozess begonnen. Ohne den wäre das Sozialforum nicht denkbar gewesen.

Die Rolle der Gewerkschaften

In der wirtschaftlich schwachen Region im Südosten der Türkei ist kaum klassische Gewerkschaftsarbeit möglich, reguläre Beschäftigung ist hier die Ausnahme. Gut organisiert sind jedoch die Gewerkschaften der öffentlichen Dienste. Eine wichtige Rolle spielt die Lehrergewerkschaft Egitim Sen, die sich für das Recht auf muttersprachliche Schulbildung in den kurdischen Gebieten einsetzt. Dazu müsste jedoch die kurdische Identität der türkischen Staatsbürger anerkannt werden. Der Gewerkschaftsdachverband KESK tritt deshalb für die Änderung des Artikels 66 der Verfassung ein, demzufolge alle Staatsbürger Türken sind. In einem Positionspapier werden Schritte für einen Friedensprozess benannt. Dazu gehören die Abschaffung des „Dorfschützersystems”, das der türkische Staat in den kurdischen Gebieten etabliert hat, eine Generalamnestie und die Pressefreiheit.