Private und öffentliche Ausgaben für Bildungseinrichtungen aller Bildungsbereiche % des Bruttoinlandsprodukts 2006 Nur 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gab Deutschland 2006 für Schulen und andere Bildungseinrichtungen aus. Die vier Spitzenreiter im internationalen Vergleich gaben allesamt mehr als sieben Prozent aus.

VON ANNETTE JENSEN

„Wir sitzen auf einer tickenden Zeitbombe.” Heike Solga, Direktorin am Wissenschaftszentrum Berlin, wird drastisch, wenn sie über Bildung in Deutschland spricht. Nicht allein das Schulsystem hat in den vergangenen Jahren immer wieder schlechte Noten von internationalen Institutionen bekommen. Auch in punkto Aus- und Weiterbildung fällt das Zeugnis alles andere als gut aus. Zum einen mangelt es am Geld. Bei einem internationalen Vergleich von Industrieländern kommt Deutschland auf einen der letzten Plätze, was den Anteil der öffentlichen Ausgaben für Bildung angeht. Auch wenn man die privaten Aufwendungen mit einbezieht, sieht es nicht besser aus. Gerade einmal 4,8 Prozent der deutschen Wirtschaftskraft werden in Bildung investiert – im Durchschnitt der OECD (Internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) sind es 6,1 Prozent, Südkorea gibt für seine Köpfe sogar 7,3 Prozent seines Bruttosozialprodukts aus.

1,5 Millionen junge Menschen sind bereits durchgerutscht

Ebenso fatal sind strukturelle Defizite. In Deutschland startet inzwischen jeder siebte junge Erwachsene ohne Ausbildung ins Arbeitsleben. Wer nach dem Schulabschluss keine Lehrstelle findet, rotiert oft mehrere Jahre in einem „Übergangssystem” – das sich häufig als Übergang zu Hartz IV erweist. Schon vor zwei Jahren bestand die Hälfte der Lehrstellensucher aus Altbewerbern. Zwar hoffen manche, dass die geburtenschwachen Jahrgänge das Problem quasi von selbst lösen werden. Doch zum einen sind bereits 1,5 Millionen junge Menschen in den vergangenen Jahren durchgerutscht. Zum zweiten fährt die Wirtschaft in der Krise das Ausbildungsplatzangebot zurück. „Es ist doch verrückt, wenn viele junge Menschen im Sozialnetz kleben bleiben. Das fördert Depressionen, Gewalt und Rechtsradikalismus”, warnt Rolf Kreibich, Leiter des Instituts für Zukunftsstudien in Berlin. Aber auch wer eine Azubistelle ergattert hat, sitzt keineswegs sicher im Sattel. Vor allem in traditionellen Industrie- und Handwerksberufen finden viele junge Leute anschließend keine Stelle mehr im erlernten Beruf. Zwölf Monate nach der Ausbildung hat fast die Hälfte der Maler-, Tischler- und Kraftfahrzeuginstandsetzergesellen keinen adäquaten Job gefunden. In der Pflege, in kaufmännischen und anderen Dienstleistungsberufen sieht es günstiger aus. Gewerkschafter warnen davor, die Priorität des dreijährigen betrieblichen Ausbildungssystems infrage zu stellen. Schließlich erwerben die jungen Leute dort keine Schmalspurqualifikation für einen einzelnen Betrieb, wie es viele Arbeitgeber am liebsten hätten. Doch die Professorin Heike Solga kontert: Die Ausbildung wie bisher dem Markt zu überlassen, schließt viele Jugendliche aus. Denn trotz aller Appelle stellen die Betriebe seit Jahren nicht ausreichend Plätze zur Verfügung. Solga plädiert deshalb dafür, dass der Staat das Geld nicht länger in ineffiziente „Übergangssysteme” steckt, sondern für voll qualifizierende Bildungsgänge ausgibt. Reichte früher eine Berufsausbildung fürs ganze Leben, stellt heute kaum jemand mehr die Notwendigkeit lebenslangen Lernens in Frage. Doch auch hier ist Deutschland schlecht positioniert. Die Chance für Beschäftigte, an Weiterbildung teilzunehmen, ist viel geringer als zum Beispiel in Schweden, Frankreich, Großbritannien oder den Niederlanden. Ohne systematische Planung schicken Betriebe ihre Mitarbeiter oft zu kurzfristigen Anpassungsmaßnahmen. Wer schon viel Bildung mitbringt, hat gute Karten; Geringqualifizierte sind dagegen nur selten dabei.

Jeder wurschtelt irgendwie für sich

Für die Beschäftigten sind in Deutschland die Betriebe, für die Arbeitslosen der Staat und für die allgemeine Bildung ist jeder einzelne verantwortlich. Jeder wurschtelt irgendwie für sich. Dagegen sind in Dänemark Staat, Unternehmen, Gewerkschaften, Individuen und Bildungsträger in ein komplexes System gemeinsamer Verantwortung eingebunden, berichtet Dick Moraal vom Bundesinstitut für Berufsbildung. Wer lernen will, hat dort Anspruch auf Freistellung. Auch Bildungssparen und Job-Rotation gehören zum System. In Frankreich zahlen alle Betriebe in einen Weiterbildungsfonds ein und können ihre Mitarbeiter dafür zu Kursen schicken. Auch das fördert eine breite Teilnahme und verhindert zugleich, dass nur unmittelbar für einen bestimmten Job verwertbares Wissen vermittelt wird. Und schließlich gibt es in Deutschland nicht nur hohe Hürden zwischen den weiterführenden Schulen. Auch später ist es schwer, vom einmal eingeschlagenen Weg abzuweichen. Nur etwa 1 500 Menschen mit langjähriger Berufserfahrung und ohne Abitur schreiben sich jährlich an deutschen Hochschulen ein. Obwohl sie oft einen Meistertitel mitbringen, werden ihre Vorleistungen nicht anerkannt. In vielen anderen EU-Ländern sind die Universitäten dagegen viel offener. Auch Über-40-Jährige sind dort präsent; in Deutschland ist deren Anteil dagegen laut OECD „kaum messbar”. Dabei sind sich alle Bildungsforscher einig, dass es immer wichtiger wird, Fachwissen mit Kenntnissen aus verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereichen miteinander zu verbinden. ver.di-Bundesvorstandsmitglied Petra Gerstenkorn formuliert klar, was eine solche Entwicklung bedeutet: „Wenn sich in Deutschland in punkto Bildung nicht schnell etwas grundlegend ändert, sind wir abgehängt – und zwar auf Dauer.”