Zu den guten Sitten gehörte es früher einmal, dass Menschen für die Arbeit, die sie leisten, so bezahlt werden, dass sie ein Auskommen haben. Dass sie davon überleben und leben, sich auch mal etwas leisten können. Ein paar neue Schuhe, die vielleicht nicht wirklich nötig sind, aber einfach schön. Oder einen Urlaub, um mal abzuschalten und sich zu erholen. Zweitjob, Drittjob? Die waren tatsächlich kaum nötig. Aber die Zeiten mit den guten alten Sitten sind lange vorbei. Unlängst überprüfte das Hauptzollamt Köln 150 Friseursalons und überführte einige Arbeitgeber des Lohndumpings: 1,50 Euro Stundenlohn war der krasseste Fall - nur leider keine Ausnahme. Beim Dumpinglohnmelder von ver.di haben sich in kürzester Zeit fast 2 000 Menschen gemeldet, deren Löhne - ja, schlichtweg sittenwidrig sind. Und das wird sich leider sobald nicht ändern.

Auch dann nicht, wenn CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla im Brustton der Überzeugung sagt: "Wir sind uns einig, dass wir zum Schutz der Arbeitnehmer jetzt endgültig ein gesetzliches Verbot von sittenwidrigen Löhnen in Deutschland vornehmen werden", und das auch in den Koalitionsvereinbarungen so steht. Denn die Frage danach, wann denn bitteschön ein Lohn sittenwidrig ist, beantworten die Strategen der Regierung mit einer Praxis, gegen die längst juristisch eingeschritten werden kann. Entspricht eine Arbeitsvergütung nicht einmal 2/3 des in der betreffenden Branche und Wirtschaftsregion üblicherweise gezahlten Tariflohnes, ist er laut Bundesarbeitsgericht (BAG) sittenwidrig. So kann es passieren, dass etwa in Brandenburg, wo im Friseurhandwerk der Stundentarif für eine Berufsanfängerin bei 2,75 Euro liegt, ein Stundenlohn von 1,84 Euro gar nicht sittenwidrig ist. Oder ein Rettungssanitäter, der Menschenleben rettet, mit einem Stundenlohn zwischen 7 und 8,50 Euro nach Hause geht.

ver.di, die Tarifverträge unter 7,50 Euro mit abgeschlossen hat, will solche Verträge nicht mehr abschließen. Aber ohne sie wären die Löhne noch niedriger. Nur ein branchenübergreifender gesetzlicher Mindestlohn kann diese unzumutbaren Zustände auflösen. Bis dahin gilt: Gegen die guten alten Sitten verstößt gerade vor allem die Regierung - mit ihrem unsittlichen Ansinnen. www.dumpinglohnmelder.de

pewe


Tamara Lappka: "Wenn mein Mann nicht noch arbeiten würde, könnte ich mir meinen Beruf nicht leisten."

TAMARA LAPPKA, 50, Friseurin

Es ist ein guter Lohn, sagt sie. Ein sehr guter sogar. Tamara Lappka, Friseurin in Cottbus, seit 33 Jahren im Beruf. Sie bekommt den Stundenlohn eines arbeitenden Meisters in Brandenburg. Und verdient 5,34 Euro die Stunde.

Tamara Lappka, die selbstbewusst, sorgsam blondiert und in rasanten roten Stiefeln daherkommt, grinst. Sie genießt die irritierten Blicke. Denn natürlich sind 5,34 Euro kein guter Lohn, sondern einfach viel zu wenig. Davon muss sie nicht nur wohnen und essen, sondern immer ordentlich aussehen, ihr Handwerkszeug kaufen - allein eine Schere, die etwa ein Jahr hält, kostet um die 130 Euro - und auf ihre Gesundheit achten, und dann sollte sie theoretisch auch noch fürs Alter vorsorgen, was aber praktisch meist ausfällt. "Wenn ich nicht einen Mann hätte, der noch arbeiten geht, dann könnte ich mir meinen Beruf nicht leisten", sagt sie. Aber mit dem, was sie nach Hause bringt, liegt sie satt über den 2,75 Euro, die für Friseusen im Friseurhandwerk seit 1993 unverändert Mindesttariflohn sind. Und auch deutlich über dem, was die jüngeren Kolleginnen, die sie kennt, verdienen. Die gehen mit um die 3,50 Euro nach Hause. Und anschließend zum Arbeitsamt, um ergänzende Sozialhilfe zu beantragen.

850 Euro im Monat

5,34 Euro pro Stunde Vollzeit, das macht rund 850 Euro im Monat. Wie es gelingt, davon zu leben? "Es war ja nie anders", sagt sie. Seit 20 Jahren, seit der Wiedervereinigung, ist dies das Niveau. Am Anfang betrug ihre Miete noch 50 Mark, jetzt sind es fast 500 Euro. Trotzdem: Sie jammert nicht, sagt: "Man organisiert sich. Es geht." Sie hat Prinzipien. "Ich habe einen Überblick über mein Guthaben und schätze ab, was ich mir leisten kann. Ich lebe nicht in den Tag." Einfach den Einkaufswagen vollpacken ist nicht. Sie überlegt vorher, was sein muss. Und sagt oft Nein, auch wenn es schwer fällt.

Gestern zum Beispiel war sie mit ihrem Mann in der Stadt. Da war dieser wunderschöne Schuh. Es war gerade ihr 50. Geburtstag, es gab Grund zum Feiern. Er sagte: "Mein Gott, dann hol ihn Dir doch." Und sie sagte: "139 Euro! Das geht nicht", und zog ihn weiter. Wenn es Extras gibt, dann nur, wenn das Trinkgeld gut war. Und so üppig kann das Trinkgeld gar nicht sein.

Oft kommen junge Frauen in den Salon, die davon träumen, Friseurin zu werden. Tamara Lappka bildet sie aus, wenn der Chef nicht da ist. "Und man unterhält sich natürlich auch über das Geld." Praktikantinnen überlegen danach oft, eher einen Beruf zu ergreifen, der weniger anstrengend und besser bezahlt ist.

Es gibt natürlich auch Wege, das Problem individuell zu lösen. Nach Feierabend schwarz dazu zu verdienen zum Beispiel. "Ich kann das keinem verdenken, irgendwie muss man ja zu was kommen", sagt Tamara Lappka. "Aber ich möchte nicht zu den Leuten in die Wohnung. Ich arbeite gerne im Betrieb. Wo man, wenn eine Kundin einem auf den Keks geht, auch mal nach hinten gehen kann und schimpfen: Leck mich doch an den Füßen. Und wo die Kollegin dann sagt: ,Du weest doch, een Doofer am Tach muss sein', und wir zusammen lachen."

Nein, Tamara Lappka möchte eine echte Lösung. Als sie jetzt überall an den Plakatwänden las: "Arbeit muss sich wieder lohnen", hat sie den Dumpinglohnmelder von ver.di angeschrieben. Ihr reichts. Sie sagt: Es könne nicht angehen, dass jemand, der Vollzeit arbeiten geht,nur über so wenig Geld verfügen kann.

Cornelia Gerlach


Vincent Thies: "Das ist einer der tollsten Berufe, die es gibt - er müsste nur anständig bezahlt sein."

VINCENT THIES, 28, Rettungsassistent

Der Tag war entspannt. Neun Einsätze. Ausnahmsweise keine Toten. Eine Wohltat nach den letzten Wochen. Kurz nach 19 Uhr steht Vincent Thies, 28, schon am Herd und kocht das Abendessen. Er hat endlich mal Zeit für die Freundin, den Hund und die Katze. Vincent Thies ist Rettungswagenfahrer beim größten deutschen Wohlfahrtsverband in Berlin.

"Ich möchte nicht reich werden", sagt Thies. Dann hätte er studiert, wäre in die Wirtschaft gegangen. Er möchte diesen Job. Mit zwölf hat er beim Jugendrotkreuz angefangen. Er wurde Sanitäter, dann Rettungssanitäter, dann Rettungsassistent. Seinen Abschluss hat er mit 1,3 gemacht, als Jahrgangsbester in Brandenburg. "Und seitdem bin ich mit Herz und Seele dabei. Das ist einer der tollsten Berufe, die es gibt." Er macht eine Pause. Man hört ihn schlucken. Dann sagt er: "Na ja, er müsste anständig bezahlt sein. Dann wäre ich der glücklichste Mensch auf der Welt."

Netto 1170 Euro

Ist er aber nicht. Vincent Thies verdient 1 700,61 Euro brutto. Mit Steuerklasse 1, ohne Kinder, bekommt er gerade 1 170 Euro raus. Sein Arbeitgeber ist aus dem Tarifvertrag ausgestiegen - wie die meisten in der Branche. Er zahlt keine Schichtzulagen, nichts extra für Sonn- und Feiertage. "Diese 1 700,61 sollen uns dafür entschädigen, dass wir Verantwortung für Leib und Leben unserer Patienten tragen", sagt Thies und findet, das geht nicht.

Natürlich: Er macht die Arbeit nicht nur fürs Geld. "In dem Moment, wo ich Leben rette, Lebensqualität zurückgebe, jemanden lächeln lasse, hat sich die Mühe schon gelohnt", sagt er und erzählt von dem Kind mit dem gebrochenen Bein. "Da macht man drei, vier Handgriffe - das lernt man ja - und das Bein tut nicht mehr weh." Wenn er dem Kind dann noch ein Kuscheltier in den Arm drückt und ihm gut zuredet und es schafft, dass es lächelt, wenn es in der Notaufnahme ankommt, dann hat er eigentlich, was er braucht. Aber nur eigentlich. Denn wer kann von einem Lächeln schon leben?

Und es gibt ja auch andere Tage. Wie neulich. Da war ein Mädchen mit den Stöpseln vom iPod im Ohr und ohne Licht am Fahrrad durch Berlin-Mitte gefahren und wollte die Straße überqueren. Es hatte vergessen, dass es den Verkehr nicht hörte, und ist genau vor ein Wohnmobil geschlagen. Und war tot. Das Mädchen war 13. "Tote Kinder sind Mist", sagt Thies trocken, "und gerade, wenn sie verstümmelt sind, dann bleibt das auch irgendwo hängen". Jedes Mal, wenn er jetzt jemanden sieht, der mit iPod-Stöpseln im Ohr Fahrrad fährt, kommt das Erlebte wieder hoch.

Vincent Thies hat Glück. Seine Freundin arbeitet auch im medizinischen Bereich und er kann ihr von dem, was er mitmacht, erzählen. Das entlastet. Aber oft erlebt er bei Kollegen, wie sie alles in sich hineinfressen. Wie Ehen kaputt gehen, Alkohol zum Problem wird, auch starke Männer unter Burn-Out leiden. "Das ist eine sehr belastende Arbeit."

Andere Menschen ziehen nach so einem hundsmiserablen Tag los und gönnen sich etwas, um sich selber zu entschädigen. Vincent Thies geht joggen oder spielt mit dem Hund. "Das kostet nichts", sagt er. Essen gehen, gar ins Theater, um auf andere Gedanken zu kommen? "Selten." Er träumt von einer Reise nach Neuseeland - "wenn da Frühling ist und alles aufbricht" - aber er konnte noch nicht mal anfangen, darauf zu sparen. Und er wünscht sich eine Altersversorgung. Aber von dem, was er verdient, bleibt nichts übrig. "Ich arbeite 48 bis 60 Stunden in der Woche. Da möchte ich auch meine Freizeit genießen", sagt er. Steht in der Küche und kocht für seine Freundin und sich.

Cornelia Gerlach