STUTTGART | Im ver.di-Bezirk Stuttgart wird vor allem im Handel eines immer deutlicher: Dass es zunehmend zur Regel wird, die Not der Beschäftigten auszunutzen. Auf einer Veranstaltung mit dem Schriftsteller Günter Wallraff, der mit seinen Recherchen derartige Missstände aufdeckt, berichteten Beschäftigte verschiedener Betriebe aus ihrem Arbeitsalltag. Einige Beispiele:

Firma Klüh: Jasmin Herbert von der Firma Klüh wurde gekündigt, weil sie sich gegen Missstände gewehrt hatte. Statt der vereinbarten sechs Stunden musste sie täglich mindestens zehn Stunden arbeiten. Ihr blieb kaum Zeit, auf die Toilette zu gehen. Für die Beschäftigten bei der Firma Klüh, die im Auftrag von Daimler in den Autowerken reinigen, sind Einschüchterungen durch Vorgesetzte und unbezahlte Überstunden keine Seltenheit. Vertragsverlängerungen müssen durch "Bestechungsgelder" an Vorgesetzte gekauft werden. Sexistische Übergriffe auf Frauen können belegt werden. Als bei der Firma Klüh bekannt wurde, dass sich Mitarbeiter/innen an Betriebsräte von Daimler gewandt hatten, schloss der zuständige Vorarbeiter sie im Auto ein, drohte mit Schlägen, schüchterte sie ein. Frauen wurden aufgefordert, bei der Arbeit Miniröcke und Oberteile mit tiefem Ausschnitt zu tragen, dann würde es weniger Reklamationen geben. Mitarbeiter/innen wurden als "Halbschwuchteln, Arschficker, Schlampen, Nutten" beschimpft, farbige Kolleg/innen als "schwarze Teufel" und "schwarze Baumaffen".

Verursacher solcher Zustände ist nicht nur die Firma Klüh, sondern auch die Firma Daimler, die mit Hilfe dieser Firmen ihre eigenen Kosten nach unten drückt.

Wittwer Bahnhofsbuchhandlung: Seit der Familienbetrieb Wittwer in einer Nacht- und Nebelaktion an die Schweizer Firma Valora Retail verkauft wurde, finden die Beschäftigten keine Ruhe mehr. Die bisher geltende Tarifbindung wurde aufgehoben. Ständig werden Beschäftigte und Betriebsräte unter Druck gesetzt, Arbeitsbedingungen werden verschlechtert und der Ton wird rüder. Weil Geld in der Kasse fehlte, wurde eine Kollegin mit Kündigung bedroht, wenn sie nicht aus eigener Tasche Ersatz leisten würde.

Netto: Offensichtlich will Deutschlands größter Lebensmittler Edeka den harten Konkurrenzkampf bei den Discountern auf dem Rücken seiner Beschäftigten austragen. ver.di wirft Netto, einer Edeka-Tochter, vor, regelmäßig gegen Tarifverträge und Arbeitszeitgesetze zu verstoßen. Christina Frank, zuständige Bezirkssekretärin in Stuttgart, sagt: "Die Beschäftigten müssen unentgeltlich nach Ladenschluss bis in die Nacht weiterarbeiten. Manche Filialleiter können buchstäblich ihr Bett in der Filiale aufstellen. Viele Beschäftigte leiden unter psychischem und physischem Stress."

Eine Verkäuferin in der Filiale Stuttgart-Stammheim wurde durch einen Stromschlag an der Kasse schwer verletzt. Ursache: ein ungesichertes Stromkabel. Der Ehemann der Beschäftigten erlitt einen Schock, er bangte um das Leben seiner Frau, die schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. ver.di sieht darin einen schweren Fall von Körperverletzung durch mangelnde Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen. Fassungslosigkeit entstand, als der zuständige Bezirksleiter sich weitaus mehr um die sofortige Inbetriebnahme der Kasse sorgte als um das Wohl der verletzten Kassiererin. Christina Frank: "Der Vorfall ist nur der Gipfel des Eisbergs."

ver.di Stuttgart macht jetzt mit einem Netzwerk mobil. Christina Frank sagt: "Diese Beschäftigten brauchen in besonderem Maße eine Gewerkschaft, die ihre Interessen vertritt. Wir wollen ihnen eine Stimme geben und dafür sorgen, dass die Konzerne ihre üblen Methoden und Übergriffe gegen die Beschäftigten nicht im Dunkeln fortsetzen können." Bernd Riexinger