Stundenlöhne von 1,50 Euro? Für die Deutsche Bahn ist das legal, Kritik wird weggewischt

Wolfsburg hat Deutschland verändert. Erst mit dem VW-Projekt 5000 x 5000, 5000 neue Jobs für 5000 DM, dann mit Peter Hartz, Ex-Personalmanager des Volkswagenkonzerns und Ex-Berater der Schröder-Regierung. Sein Name steht noch heute für die radikalste Reform und den nachhaltigsten Umbau am deutschen Arbeitsmarkt, die Hartz-Gesetze. Doch was 2002 noch wie eine Verheißung klang, als Wolfsburg AG bezeichnet wurde, als kleines Modell fürs ganze große Land, zeigt 2010, im Jahr Zwei der Finanz- und Wirtschaftskrise, nur noch seine hässliche Fratze. Lohndumping, man darf es inzwischen auch ruhig Ausbeutung nennen, ist ein Meister, der aus Wolfsburg kommt.

Der Drogerie-Discounter Schlecker kündigt seinen Mitarbeiterinnen zu Tausenden, um sie für halb so viel Geld über eine Leiharbeitsfirma wieder einzustellen. Sieben Prozent der deutschen Unternehmen machen das inzwischen ähnlich. Die Deutsche Bahn lässt ihre Gleise von osteuropäischen Subunternehmen warten, die dafür unausgebildetes Personal schicken und dieses dann mit Stundenlöhnen zwischen 1,50 Euro und 6,50 Euro abspeisen. Und das tut die Deutsche Bahn ganz ungeniert. Kaum ist über die Bahn-Praktiken das "Schwarzbuch Deutsche Bahn" erschienen, werden die Kritiker mit dem Argument mundtot gemacht, dass sich alles im legalen Rahmen bewege, und werden die nächsten Billiglöhner zum Schneebeseitigen auf den Gleisen aus dem Osten engagiert.

In genau dem gleichen legalen Rahmen wähnt sich die Lebensmittelkette Netto, die mittlerweile unter ihren 50000 Beschäftigten überwiegend Pauschalkräfte hat, deren Stundenlohn bei 5 Euro liegt und denen die Überstunden freiwillig nicht gezahlt werden. Aus Angst den Job - und sei er noch so mies bezahlt - zu verlieren, schweigen die allermeisten Mitarbeiter/innen. H&M, die schwedische Modemarke, in der sich die halbe Bevölkerung vom Kleinkind bis zur Oma inzwischen kleidet, setzt auf Zehn-Stunden-Verträge mit einem Stundenlohn von knapp unter zehn Euro. Nur, wer kann schon von zehn Stunden Arbeit in der Woche leben? Ähnliche Zustände herrschen in Autowaschanlagen. Kommt ein Auto rein, gibt's Geld für den Wart der Waschanlage, kommt keines, bleibt die Geldbörse leer. Und selbst die Deutsche Post, die sich vehement gegen die billigere Konkurrenz der Privatpostdienste stemmt, hat längst ihre eigene Billigtochter namens First Mail gegründet, bei der die Beschäftigten für einige Euro weniger die Stunde arbeiten als im Mutterkonzern. Und nur bei der Tochter wird ausgebaut. Noch in diesem Jahr sollen die 190 Beschäftigten 300 neue Zusteller-Lehrlinge dazu bekommen, 2011 sollen es dann schon 650 Lehrlinge sein.

Es ist völlig egal, wo man nachforscht, wo man nachfragt: Das Prinzip immer mehr Menschen für immer weniger Geld arbeiten zu lassen, hat sich von Wolfsburg aus in den vergangenen Jahren wie ein Virus ausgebreitet. Aus der Wolfsburg AG ist die Deutschland AG gewachsen. Um ihre Bilanz allerdings muss man sich sorgen. In den Jahren von 1995 bis 2006 sanken in Deutschland die realen Stundenlöhne um fast 14 Prozent. Und sie sind, wie die Beispiele zeigen, weiter im freien Fall. In der Dekade von 1997 bis 2007 sind in Deutschland 1,5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze verschwunden. Gleichzeitig sind die Stellen für Teilzeitbeschäftigte und Minijobber/innen auf 2,5 Millionen gestiegen. Mindestens 1,2 Millionen Menschen können heute schon nicht mehr von dem Geld, das sie verdienen, leben. Sie müssen mit Hartz IV aufstocken. Dieses Aufstockergeld kommt natürlich nicht von den Unternehmen, sondern vom Staat, der es wiederum über die Steuergelder der Bürger einbezieht.

Politik hat sich verabschiedet

Während also die Unternehmen ihre Personalkosten minimieren, um ihre Gewinne zu maximieren, bezahlen Staat und Gesellschaft für die Löhne, die die Wirtschaft nicht mehr bereit ist zu zahlen. Das, was der Staat einst erhofft hatte und durch Ökonomen wie Hans-Werner Sinn erklären ließ: "Wir leben in einer Zeit, in der die Löhne nach unten angepasst werden müssen, um Arbeitsplätze zu halten oder neue zu schaffen", macht heute tatsächlich angesichts der Krise und steigender Arbeitslosenzahlen überhaupt keinen Sinn mehr. Das Prinzip des so genannten neoliberalen Wirtschaftens, also jeder ist seines Glückes Schmied oder anders ausgedrückt, jeder hat sein Steuer selbst in der Hand, ist mit der Krise gehörig an die Wand gefahren. Und die Politik? Hat sich längst unter dem Druck großer global agierender Konzerne im Wettbewerb um Standortvorteile erpressbar gemacht und sich aus ihren Kernaufgaben im öffentlichen Leben zurückgezogen. Das, was die Teilhabe aller an einem ganz normalen Leben ausmacht, ein öffentlicher bezahlbarer Verkehr, bezahlbare Kultur, Bildung, Altersvorsorge, etc., aus dem verabschiedet sich die Politik immer mehr und überlässt auch diese Aufgaben noch allein gewinnorientierten Unternehmen. Der öffentliche Nahverkehr wird privatisiert, die Wasserversorgung, die Stromversorgung, die Schwimmbäder, Theater, Kindergärten, Schulen und demnächst vielleicht auch noch die öffentlichen Parkanlagen, für die man dann Eintritt bezahlt.

Der Widerstand gegen all dies ist noch klein, aber es gibt ihn, wie es das Beispiel des unten stehenden Berichts über den Leiter der Stralsunder Arge zeigt. Oder auch die IG Metall: Sie konnte sich bei VW wieder mit dem Grundsatz "gleiches Geld für gleiche Arbeit" durchsetzen. Die Beschäftigten des Modells 5000 arbeiten inzwischen zu den gleichen Konditionen wie die Kollegen im Stammhaus. Und auch ver.di und die Schlecker-Frauen formieren sich zum Widerstand: Sie wollen gleiche Bedingungen und gleiche Bezahlung - in allen Filialen.