Höchstgeschwindigkeit 23 Stundenkilometer und bei Eintritt der Dunkelheit mit hell leuchtenden Laternen zu versehen. LKW von 1910

Von Jenny Mansch

"Werte Kollegen, der Siegeszug des Automobils ist nicht mehr aufzuhalten, unablässig geht es vorwärts." Der imposante Schnurrbart des früheren Anarchisten Ferdinand Bender muss gebebt haben, als er dergestalt in den Saal frohlockte. Das war um 9 Uhr vormittags, am Mittwoch, den 16. Mai 1913. Einberufen vom Deutschen Verband der Transportarbeiter (DTV), war die 2. deutsche Konferenz der Berufsautomobilführer soeben eröffnet worden, Bender hielt den Vortrag über "Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse im Chauffeurberuf".

Ferdinand Bender, frisch onduliert, und eine Fakulta-Mitgliedskarte von 1929

In der Tat konnte der SPD-Reichstagsabgeordnete seine Vorhersage belegen: 1907 waren erstmals 27 026 Kraftfahrzeuge im Deutschen Reich gezählt worden, zum Zeitpunkt der Gewerkschafts-Konferenz 1913 waren es bereits 77 789, davon dienten 70 085 der Personenbeförderung. Für Bender war dies die Folge der "glänzenden wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands". Die "ungeheure Steigerung der Produktion und Warenerzeugung" mache die Entwicklung neuer Verkehrsmittel notwendig, was die moderne Technik durch Herstellung des Automobils glänzend gelöst habe. Und wer wisse schon, welch Überraschung man von diesen neuen Flugzeugen noch zu erwarten habe! Die gesetzlich geregelten Lohn- und Arbeitsbedingungen der Berufskraftfahrer allerdings, die sich noch aus der preußischen Gesindeordnung von 1810 speisten, war den "Automobilführern" ein dunkles Gewölk am lichten Himmel der Moderne.

Tatsächlich war auf den Straßen Deutschlands die Sau los. Der steigenden Zahl herumgurkender Fahrzeuge aller Art versuchte der Gesetzgeber seit 1909 mit allerlei Regelungen zum Straßenverkehr hinterher zu eilen. Mit den Jahren entwickelte sich ein Gewirr aus Vorschriften, das kaum noch zu beherrschen war. Wenn etwas schiefging, stand der Schuldige fest: der Fahrer. Aus Hannover kam der Wunsch an die Konferenz, man wolle darum bitte beschließen, dass nur noch "solchen Personen die Befähigung zur Führung eines Kraftfahrzeuges zuerkannt wird, die aus staatlich zu errichtenden Chauffeursschulen hervorgehen". Die bisherige Ausbildung der Chauffeure diene lediglich dazu, Kapital aus ihnen zu schlagen, ohne sie auf die Gefahren des großstädtischen Verkehrs vorzubereiten.

Sonderfahrt für Freunde des Stuttgarter ÖPNV, ca. 1960. Im Alltag waren Unfälle mit der Tram nicht lustig

Aufrecht auf dem Kutschbock

Stattdessen hatte der Chauffeur, wie Bender wortgewaltig ausführte, dem Dienstherrn zu jeder Zeit zur Verfügung zu stehen. "Einen Feierabend kennt er nicht. Er muss, wenn es sein Arbeitgeber bestimmt, 24, ja 36 Stunden hintereinander arbeiten! Er ist zu keiner Stunde des Tages Herr über seine Person, sondern der Sklave, der Hörige seines Dienstherrn." Dafür aber musste er zu jeder Zeit "aufrecht auf dem Kutschbock sitzen". Die Livree musste er in Fünf- Mark-Raten abbezahlen, und, was das Schlimmste war, er haftete für jeden Schaden, ob an Fahrzeug oder der beförderten Person, schuldhaft oder nicht. Für eine große Anzahl von Fahrern bedeutete dies die totale Verschuldung durch einen Unfall, nicht selten mussten sie die im Gefängnis absitzen. Der Beruf des Chauffeurs oder Automobilführers, dazu gehörten auch Bus- und Straßenbahnschaffner, war ein abenteuerliches Risiko - bis die Idee der Fakulta ("freiwillig") geboren wurde.

Nach dem Vorbild aufbegehrender Straßenbahnfahrer hatten 1909 die Berliner Kraftwagenführer einen Antrag an den DTV gestellt. Für Mitglieder, die "höheren Rechtsschutz beanspruchen", sollte eine Gefahrenkasse oder Versicherung geschaffen werden. Es gab zwar Betriebskassen, aber wer sich mit dem Chef stritt, bekam kein Geld zu sehen.

Liebevoll vereint

Am 1. April 1910 nahm also die freiwillige Unterstützungseinrichtung der Gewerkschaft, die Fakulta, ihre Geschäfte auf. Besonders Kutscher, Packer, Straßenbahn- und Omnibus-Angestellte nutzten sie, später kamen Kraftfahrer, Binnenschiffer und Postbeamte dazu, 1930 schließlich Gemeinde- und Staatsarbeiter. Sie zahlten wöchentlich einen Beitrag zwischen 20 und 30 Pfennig, das Modell rechnete sich. Ende 1910 gab es 1 272 Mitglieder, die 22 757 Mark eingezahlt hatten. 594 Mark hatte man für Haftpflichtunterstützung, Rechtsschutz und Ersatz für Geldstrafen ausgegegeben, 17 005 Mark blieben als Rücklage.

Rund ein Jahr nach Benders flammender Rede begann der erste Weltkrieg den Mitgliederbestand zu dezimieren. Von nun an ging es bergab und bergauf, immer längs der deutschen Geschichte. Mit den Gewerkschaftsgeldern rissen sich die Nazis auch das Vermögen der Fakulta unter den Nagel, der Rechtsschutz galt nur noch für "Arier". 1946 reanimierte sich die Fakulta in der sowjetischen Besatzungszone; im Westen schuf der DGB 1950 das Wortungeheuer "Gewerkschaftliche Rechtsschutz- und Haftpflichtunterstützungseinrichtung der Verkehrsberufe aller Wirtschaftszweige im Rahmen des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Alte Fakulta", nannte es zu aller Erleichterung aber kurz GUV. Aus ihr ging 1965 auch der ACE, der Auto Club Europa hervor. Nach der Wende schmiegten sich GUV und Fakulta wieder liebevoll aneinander und wurden zu der tat- und zahlungskräftigen Einrichtung für Verkehrsteilnehmer generell, die sie bis dato im Schadensfalle ist. Da ist heute noch aktuell, womit Bender seine Rede 1913 beschloss: "Ein Beweis dafür ist unsere Organisation, welche innerhalb der Arbeiterbewegung geachtet ist. Bei gemeinsamer, intensiver Arbeit kann uns der Erfolg nicht fehlen. In diesem Sinne fordere ich Sie auf, mit mir einzustimmen in den Ruf: ‚Die Berufsorganisation der Chauffeure, sie lebe hoch! hoch! hoch!'"