Von Birgit Antes

Eine dreiviertel Gehstunde vom Bahnhof Lenggries entfernt, beginnt unmissverständlich das Gebirge. Ohne sich groß mit überflüssigen Serpentinen aufzuhalten zieht sich der Grasleitensteig gleichmäßig ansteigend durch die bewaldete Bergflanke. Auch wenn es hier meist schattig ist, es müssen durchaus ein paar Schweißtropfen investiert werden, bevor nach zwei Stunden das erste Etappenziel, die Lenggrieser Hütte, erreicht ist. Die Wirte der ganzjährig bewirtschafteten Alpenvereinshütte beteiligen sich an der Aktion "So schmecken die Berge" des Deutschen Alpenvereins, auf der Speisekarte finden sich also überwiegend Schmankerl aus regionalen Produkten. Und auf der Terrasse mit Zugspitzblick herrscht löffelklappernde Einigkeit: Allein für diese Speckknödelsuppe hätte sich der Aufstieg gelohnt. Doch es soll noch besser kommen. Mit zwei Tagen Zeit - und ohne ein am Ausgangspunkt der Tour geparktes Auto als Klotz am Bein - sind wir flexibel in der Wahl des Endpunkts der Wanderung. Der Verzicht auf vermeintlich Bequemes kann oft ein Mehr an Bewegungsfreiheit bewirken.

Oberhalb der Hütte beginnt die Almregion, mit blumengetupften Wiesen und braun-weiß gescheckten Kühen, die neugierig zur Besichtigung der seltsamen Wanderer herantrotten. Diese wiederum fügen sich allmählich ein in den entschleunigten Gang der Dinge. Das Tagesziel, die Tegernseer Hütte, ist maximal zwei Gehstunden entfernt, es gibt keinen Grund zur Eile, aber viele Gelegenheiten zum Anhalten, Schauen und Genießen. Keinesfalls links stehen lassen sollte man das Seekarkreuz. Ein kurzer Abstecher führt auf den rundlichen Grasgipfel, der mit 1 601 Metern Höhe zwar kein wirklich großer, aber ein typischer Vertreter der Bayerischen Voralpen ist, welche dank ihrer Position in der ersten Reihe ideale Logenplätze mit freiem Blick zu den richtigen Bergen im Alpenhauptkamm bieten.

Im näheren Umkreis dominieren sanfte, harmonische Konturen. Nur selten werden Zähne gezeigt, wenn ein kleiner, schroffer Kalkgipfel oder eine abenteuerlich geformte Felsnadel zwischen dunklen Waldkuppen hervorstößt. Zu den markantesten Berggestalten gehört das schneidige Bruderpaar Ross- und Buchstein, getrennt durch einen schmalen Einschnitt, aus dem das Dach der Tegernseer Hütte herüber leuchtet. Überwiegend am Kamm entlang schlängelt sich nun der Pfad. Eine kurze felsige Passage am Mariaeck erfordert etwas Aufmerksamkeit, danach ist wieder unbeschwertes Bummeln mit Aussicht angesagt.

Die Glücklichen, die oben geblieben sind

Im Sattel bei den Rossteinalmen zeigt plötzlich das Bild einer malerischen Bergwelt hässliche Schrammen. Eine extra breite Fahrstraße kurvt aus dem Tal herauf zu den Hütten. Eiligen Schrittes mag der Wanderer diese "Kultur"-Landschaft hinter sich bringen, wendet sich ab und steigt auf in Richtung Rossstein. An dessen Fuß teilt sich der Weg: Rechts herum führt ein mit Eisenstiften und Drahtseil gesicherter Klettersteig durch die Felsen, links herum geht es auf dem "Altweibersteig" ohne Klettereinlage zur Tegernseer Hütte.

Egal, auf welcher Route man letztendlich hinaufsteigt, oben angekommen gibt es mehr als einen Grund, nach Luft zu schnappen. Exponiert wie ein Adlernest klebt seit mehr als hundert Jahren die Hütte der Alpenvereinssektion Tegernsee über der senkrechten Südwand des Buchsteins. Atemberaubend ist die Aussicht von der winzigen Terrasse, die ein solider Holzzaun vom Abgrund trennt. "Via Weißbier" heißt sinnigerweise eine schwierige Kletterroute, die am luftigen Biergarten endet. Am späten Nachmittag, wenn die Tagesgäste gen Tal verschwunden sind, kehrt himmlische Ruhe ein im Reich des Hüttenwirtspaares Sylvia und Michael Ludwig. Die Glücklichen, die oben geblieben sind, können sich auf ein köstliches Abendessen freuen - und werden noch lange vor der Hütte sitzen, wo die tief stehende Sonne den Rotwein in den Gläsern zum Funkeln bringt.

Der 13 Kilometer weite Abstieg am nächsten Tag wird ein langer Marsch, aber weder langweilig noch entbehrungsreich. Über die Buchsteiner Hütte und die Schwarzentennalm geht es zunächst nach Bad Wiessee. Und nachdem mit dem Linienschiff der Tegernsee überquert ist, führt kein Weg vorbei am Tegernseer Bräustüberl. In fröhlicher Runde, bei deftiger Brotzeit und süffigem Tegernseer Bier hat dort allerdings schon mancher die Abfahrt etlicher Züge verbummelt.

Info

Diese typische Voralpenwanderung verläuft auf gut angelegten, markierten und teilweise gesicherten Steigen und verlangt die - für jede Bergtour vorauszusetzende - Trittsicherheit.

Die Eckdaten zur Wanderung: Lenggries Bahnhof - Tegernseer Hütte, ca. 12 km, 4,5 - 5 Std., Abstieg: Tegernseer Hütte - Bootsanleger Bad Wiessee, 13 km, 3 - 3,5 Std.; An- und Abreise: Bahnverbindungen via München nach Lenggries und Tegernsee.Hütten: Lenggrieser Hütte: www.lenggrieser-huette.de, Tel. 0175 / 596 28 09, Tegernseer Hütte: http://heimat.de/tegernseer_huette, Tel. 08029 / 997 92 62, 0175 / 411 58 13. Schlafplätze unbedingt reservieren.Wanderkarte: Topograpische Karte, 1 : 50 000, Bad Tölz - Lenggries,Wanderführer: Isarwinkel, Bergverlag Rother, München

Wandern Sie doch mal wieder

Trittfeste Schuhe, wetterfeste Kleidung, Essen, Trinken - mehr braucht der Wanderer nicht, um loszukommen. Viele Menschen, die im Grünen leben, müssen nur vor die Tür treten, um ein paar Stunden und einige Kilometer draußen in der Natur zu verbringen. Die Städter müssen Anlauf nehmen, vor die Tore der Stadt fahren, um von dort zu Fuß aufzubrechen in den Kurzurlaub am Wochenende oder in den Jahresurlaub.

Auf dieser und den folgenden Seiten möchten wir anregen, sich die Welt mit kleinen Schritten zu erobern. Wandern entschleunigt, setzt Zeit und Raum wieder in ein messbares Verhältnis. Natürlich kommen wir mit dem Auto, Zug oder Flugzeug oft in Nullkommanichts von hier nach da, nur gesehen, gerochen, gespürt haben wir nichts von alldem, was während Fahrt oder Flug an uns vorbeigerauscht ist. Wandern wir hingegen, können wir innehalten, einem Gedanken nachhängen, können wir stehen bleiben, eine Blume, ein Tier näher betrachten, können wir eine Aussicht genießen.

Wir haben uns dafür ins Herz der Bayerische Voralpen begeben, wandern auf den Spuren des Klimawandels in der Schweiz, passieren etliche Seen am Rande der Großstadt Berlin und besuchen den Wanderpapst, der sich von der Festkörperphysik gelöst und der Wissenschaft vom Wandern zugewendet hat. Und halten es ansonsten mit Goethe: "Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah."

Petra Welzel