Nur jeder zehnte Arbeitnehmer in Deutschland arbeitet heute bis zu seinem 65. Lebensjahr

VON Karin Flothmann

Sollen Beschäftigte ab dem Jahr 2027 tatsächlich erst mit 67 in Rente gehen können? Die Bundesregierung muss in diesem Jahr erstmals überprüfen, ob die Anhebung des Renteneintrittsalters angesichts der Arbeitsmarktentwicklung und mit Blick auf die wirtschaftliche und soziale Situation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer "weiterhin vertretbar erscheint". Die Ergebnisse dieser Überprüfung sollen im Herbst veröffentlicht werden. Doch wie sehen die Fakten aus, die ein solcher Prüfbericht berücksichtigen muss? Derzeit erreichen nur 40 Prozent aller westdeutschen Männer vor der Rente die 45 Versicherungsjahre, die das deutsche Rentensystem bei der Berechnung der so genannten Eckrente zugrunde legt. Bei den westdeutschen Frauen sind es ganze vier Prozent. Das macht sich bei der Höhe ihrer durchschnittlichen Rente bemerkbar. Während die Netto-Eckrente vor Steuern im Jahr 2008 in Deutschland bei 1 071 Euro lag, betrug die durchschnittlich ausgezahlte Versichertenrente in Deutschland für Männer 821 Euro und für Frauen 499 Euro. Hinzu kommt: Mit der Einführung der privaten Riester-Rente 1999 wurde eine langfristige Absenkung des Rentenniveaus beschlossen und damit die gesetzliche Rente dauerhaft geschwächt.

Durchschnittlich gehen die Deutschen heute mit 60,7 Jahren in Rente

Nur jeder zehnte Arbeitnehmer in Deutschland arbeitet heute bis zu seinem 65. Lebensjahr. Das durchschnittliche Alter, in dem Menschen im Jahr 2008 ihre Rente beantragten, lag bei 60,7 Jahren. Menschen, die aufgrund ihrer verminderten Erwerbsfähigkeit aus dem Arbeitsleben ausscheiden mussten, waren nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung Bund im Schnitt 50 Jahre alt, Versicherte in Altersrente 63,2 Jahre. Wer bis zum 67. Lebensjahr arbeiten muss, braucht auch Arbeit. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ging 2006 davon aus, dass zwischen 1,2 Millionen und mehr als drei Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs entstehen müssten, um durch die Rente ab 67 nicht noch mehr Arbeitslosigkeit zu produzieren.

Doch diese Jobs entstehen nicht. 60 Prozent der deutschen Betriebe beschäftigen laut IAB keine Menschen über 50. Zwar stieg die Erwerbstätigenquote in Deutschland bis 2007 in keiner Altersgruppe so stark an wie bei den 55- bis 64-Jährigen: Noch im Jahr 1997 waren nur 38,1 Prozent dieser Altersgruppe erwerbstätig, 2007 waren es 51,5 Prozent. Doch in welchen Jobs ältere Beschäftigte arbeiten, sagen die Zahlen nicht: Ein Drittel findet laut DGB nur noch eine geringfügige Beschäftigung. Die Bundesregierung kümmern diese Fakten nicht. Sie will zwar die Überprüfungsklausel ernst nehmen, macht aber klar, dass sie - komme was da wolle - an der Anhebung des Renteneintrittalters festhalten will. Nur so sei die demografische Entwicklung im Rentensystem aufzufangen.

Viele Menschen gehen aufgrund gesundheitlicher Probleme frühzeitig in Rente

Das "Netzwerk für eine gerechte Rente", ein Bündnis aus Sozialverbänden, ver.di und dem DGB, sieht das nicht so. Schon heute, so Judith Kerschbaumer, die beim ver.di-Bundesvorstand den Bereich Sozialpolitik leitet, zeige sich, dass viele Menschen aufgrund gesundheitlicher Probleme frühzeitig in Rente gehen müssen. Denn Arbeit macht krank - vor allem diejenigen, die jahrelang körperlich schwere Arbeit verrichten müssen, die in Wechselschichten arbeiten oder in ihrem Beruf unter hoher nervlicher Anspannung stehen. "Im Jahr 2006 arbeitete ein größerer Anteil von Arbeitnehmern nachts und in Wechselschicht als noch 1985", konstatiert der Monitoringbericht des Netzwerks. Und: "Es sind gerade die Belastungen und Anforderungen der Arbeitsplätze, die zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen und (häufig chronischen) Krankheiten beitragen." Fast ein Viertel aller 55- bis 64-Jährigen geht heute aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in Rente. Betroffen sind in erster Linie Erwerbstätige aus Bauberufen, Hilfsarbeiter, Maurer, Zimmerer oder Maler, zunehmend aber auch Beschäftigte in der Kranken- und Altenpflege oder Erzieherinnen. Und: Angelernte, gering Qualifizierte und überwiegend prekär Beschäftigte haben deutlich geringere Chancen als gut Verdienende, bis zur Rente zu arbeiten. Hinzu kommt: Die Langzeitarbeitslosigkeit Älterer wächst. Niedriglöhne, prekäre Beschäftigung und unterbrochene Erwerbsbiographien sind für diejenigen, die erst mit 67 in Rente gehen sollen, schon heute Realität. Das schmälert ihre Möglichkeiten beträchtlich, eine Rente zu erarbeiten, die im Alter ein Leben in Würde ermöglicht. Vor diesem Hintergrund kommt das Netzwerk für eine gerechte Rente zu dem Schluss, dass schon heute deutliche Veränderungen der Arbeitsbedingungen von einem erheblichen Teil der Beschäftigten nötig wären, um die Rente mit 67 wenigstens ansatzweise realistisch werden zu lassen. Andernfalls kann die Rente mit 67 keinen Bestand haben. Darüber wird auch die Bundesregierung in ihrem Rentenbericht im Herbst nicht hinwegsehen können. Diskutieren Sie mit im https://mitgliedernetz.verdi.de

„Um nicht noch mehr Arbeitslosigkeit durch die Rente mit 67 zu produzieren,müssten bis zu drei Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs entstehen.Doch diese Jobs entstehen nicht.“