Ausgabe 05/2010
Sehen
Die Kartoffel der Schlafwandlerin
Pippa Lee | Wacht man eines Nachts traurig auf, zwischen den Regalen eines Tankstellenshops, und hält eine Kartoffel in der Hand, dann ist die Zeit gekommen, sich ein paar Gedanken über den eigenen Lebensentwurf zu machen. Selbst, wenn man dabei ein kostspieliges Nachthemd trägt und die fürsorgliche Nachttankstellenaushilfe von Keanu Reeves gespielt wird. In Rebecca Millers Verfilmung ihres eigenen Romans Pippa Lee (The Private Lives of Pippa Lee) muss sich die 50-jährige Schlafwandlerin nun mit ihrer wüsten Vergangenheit auseinandersetzen, mit Mangel, Orientierungslosigkeit und tödlicher Eifersucht. Auch die aktuelle Entscheidung, New York zu verlassen, um mit dem Jahrzehnte älteren Ehemann in eine Seniorensiedlung zu ziehen, war vermutlich die falsche... Robin Wright Penn ist bekannt aus beeindruckenden Nebenrollen. Als fragile, aber erstaunlich widerstandsfähige Heldin und Ich-Erzählerin Pippa gibt sie diesem Gemütsfilm Originalität und Komik; ihr Liebesunglück wird zur tragikomischen Farce: „Habe ich gerade einen ganz stillen Nervenzusammenbruch?“ Nebenfiguren im Film beziehungsweise Hauptdarsteller in ihrem Leben sind nicht ihre Kinder oder alte falsche Freunde, sondern Pippas Tabletten essende Mutter (Maria Bello), der Gatte als weiser Altlüstling (Alan Arkin), dessen exaltierte Exfrau (Monica Bellucci), eine Neurotikerin (Winona Ryder), die Erinnerung an die Liebhaberin der Tante (Julianne Moore), eine Nachbarin mit Hang zum Kitsch (Shirley Knight) sowie deren heftig tätowierter Verlierersohn, gerade zu Besuch im Rentnerparadies (Keanu Reeves). Das Verführerische dieses ungeratenen Sohnes ist aber weniger die Bebilderung seines nackten Oberkörpers. Wie Pippa Lee ist er auf der Suche, nach Sinn, nach Zukunft, nach sich selbst. Oder nach jemandem, der dieses Suchen verstehen kann, wenigstens für eine Weile. Die Gefahr von Rührseligkeit und Melodramatik kann die Regisseurin und Romanautorin Miller bei dieser Thematik nicht vermeiden, aber oft ausbalancieren. Die typische bange Frage, welche Teile der Literaturvorlage für die Verfilmung geopfert wurden, lässt sich für Pippa Lee so beantworten: Im Buch gibt es mehr Sex. Und im Film viel zu essen, besonders nachts, beim Schlafen. Jutta VahrsonUSA 2009, R: REBECCA MILLER, MIT: ROBIN WRIGHT PENN, ALAN ARKIN, KEANU REEVES, JULIANNE MOORE, 93 MIN., KINOSTART: 1. 7. 2010
Die Beschissenheit der Dinge | Rauchen, Saufen, Frauen. Oder nackt Fahrrad fahren. Der Alltag der vier arbeitslosen Brüder wirkt entspannt; ihre alte Mutter kümmert sich um den Haushalt im flämischen Städtchen und zieht ihren Enkel auf. Die Lebensfreude der Männer leidet kaum am Verlust des Fernsehers an den Gerichtsvollzieher, doch an dem des Kindes, das vom Jugendamt in ein Internat eingewiesen wird. Der kleine Gunther scheint vor Alkoholismus und Armut gerettet. Die Verfilmung des autobiographischen Romans Die Beschissenheit der Dinge von Dimitri Verhulst ist kein simples Sozialdrama, sondern eine streckenweise komische Tragödie mit Abgründen und Möglichkeiten. So fehlt dem erwachsenen Gunther die Fähigkeit seiner Verwandten, glücklich zu sein. Bis er einen Verlagsvertrag bekommt – und seinem eigenen ungewollten Söhnchen das Fahrrad fahren beibringt. jvB 2009. R: FELIX VAN GROENINGEN. D: KENNETH VANBAEDEN, VALENTIJN DHAENENS, KOEN DE GRAEVE, GILDA DE BAL, 108 MIN., KINOSTART: 20. 5. 2010
Der Vater meiner Kinder | Ein Tod im Sommer. Trotz Selbstbewusstsein, Charisma und einem faszinierenden Job erschießt sich der hübsche Familienvater. Unter der Oberfläche von Landvilla und Filmproduktionsfirma haben ihm massive Geldprobleme, ein Streik am Drehort sowie zickige Geschäftspartner die Überzeugung genommen, noch einen Ausweg finden zu können. Die erste Filmhälfte von Mia Hansen-Løve zeigt die Spirale dieser zunächst normalen Schwierigkeiten. So gerät der Schuss zum Schock. Besonders für seine Frau und die Töchter, die sich statt mit Banalitäten nun mit Verantwortung auseinandersetzen müssen. Und versuchen, wenigstens einen Teil seiner Filme zu retten, das Vermächtnis eines Cineasten. Der Vater meiner Kinder verbindet diese wortwörtliche Trauerarbeit mit ästhetischen Bildern, Kummer und Mühe mit Vitalität: ein Wohlfühlfilm der französischen Art. jv F, D 2009. R: MIA HANSEN-LØVE. D: LOUIS-DO DE LENCQUESAING, CHIARA CASELLI, ALICE GAUTIER, 112 MIN., KINOSTART: 20. 5. 2010