Die sichtbare Krise: Francisco Hernando, riesiges Immobiliienprojekt mit Wohnungen für 40000 Menschen, in der Siedlung leben aber bisher nur 4000 Menschen (unten) - morgens in der Schlange vor einem Arbeitsamt im Norden von Madrid

von Merten Worthmann (TEXT) und Christian Jungeblodt (Fotos)

José Manuel García ist fachmännisch im Blaumann gekleidet. Gerade hat er die Rohrleitungen für ein Vollbad verlegt. Zu Waschbecken, Wanne und Bidet laufen Warm- und Kaltwasserleitungen nebeneinander, zum Spülkasten läuft die Kaltleitung allein. Doch Wasser wird niemals fließen und kein Klo wird angedockt, denn García hat bloß eine Trockenübung absolviert. Nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit durfte der 45-jährige Bauarbeiter aus Madrid an einer viermonatigen Fortbildung zum Installateur teilnehmen. In zwei Tagen steht er wieder auf der Straße, wo ihm das Extra-Knowhow nicht viel nutzen wird, zumal in seinem Alter. "Jetzt heißt es, sich von Hoffnung zu ernähren", sagt er und setzt ein schiefes Lächeln auf, als müsse er selbst über seinen kernigen Spruch schmunzeln.

Eine Stunde zuvor hatte ihm kurz Madrids Bürgermeister Alberto Ruiz-Gallardón gegenüber gestanden, ihm Glück gewünscht und noch einen Moment mit Garcías Kollegen geplaudert. Dann eröffnete Ruiz-Gallardón ganz offiziell den neuen Fortbildungsbau im Problembezirk Usera, unter anderem mit dem stolzen Hinweis, die Zahl der Madrider Arbeitsämter sei in den vergangenen Jahren verdoppelt worden. Für García hatte keines der Ämter bisher etwas im Angebot. Er selbst graste monatelang Baustelle um Baustelle ab, erfolglos. "Am meisten macht mich verrückt", sagt er, "dass ich mir mit 45 plötzlich wie ein Parasit vorkomme." Noch erhält García eine monatliche Unterstützung von 429 Euro, allein zwei Drittel des Geldes gehen für die Miete drauf. "Irgendwann habe ich aufgehört, Baustellen zu besuchen. Man wird zu sehr mit der Realität konfrontiert. Ich will mein Selbstwertgefühl nicht komplett verlieren."

Mit dem Selbstwertgefühl hat derzeit ganz Spanien ein Problem. Der Ausbruch der globalen Wirtschaftskrise liegt bereits drei Jahre zurück, und das Land scheint aus der eigenen Talsohle nicht herauszufinden. Die Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent, doppelt so hoch wie der EU-Durchschnittswert. Von den unter 25-Jährigen sind sogar fast 40 Prozent ohne Job. Zugleich macht dem Land eine tiefgreifende Schuldenkrise zu schaffen. Obwohl der Staat selbst Ende 2009 nur mit moderaten 51 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes, BIP, verschuldet war (Deutschland notierte bei 73 Prozent), belaufen sich die Gesamtschulden - Firmen und Privathaushalte eingerechnet - auf rund 390 Prozent des BIP (Deutschland: 203 Prozent). Nach der Notrettung Griechenlands gilt Spanien noch immer als einer der nächsten Kollaps-Kandidaten. Ein entsprechender Hilferuf würde die EU-Kasse ungleich stärker belasten, denn Spanien trägt zum Gemeinschafts-BIP etwa viermal so viel bei wie Griechenland.

Generalstreik im September

Inmitten der Krise agiert die sozialistische Regierung unter José Luís Rodriguez Zapatero glücklos bis unbeholfen. "Wir hatten vor, den Finanzmarkt zu reformieren; am Ende hat der Finanzmarkt uns reformiert", erklärte Zapatero, während er im Mai ein bitteres Sparpaket auf den Weg brachte. Ende Juni, weiter in der Defensive, begründete er seinen Kurswechsel im Parlament mit den Worten: "Ja, ich habe meine Meinung geändert - der Umstände wegen, nicht aus Überzeugung." Weil die Regierung nun Renten einfriert, staatliche Löhne senkt, bei der Pflegeversicherung kürzt und die Babyprämie abschafft, Banken und Reiche dagegen vorerst in Frieden lässt, schütteln viele Stammwähler den Kopf. Und seit die Sozialisten mit einer Arbeitsmarktreform auch den Kündigungsschutz gelockert haben, stehen auch die Gewerkschaften gegen Zapatero auf. Für den 29. September rufen sie zum Generalstreik auf.

"Die Stimmung des Volkes ist am Boden", sagt Enrique Fossoul, "viele sind pessimistisch und glauben, Proteste führten zu nichts". Fossoul ist Generalsekretär der Dienstleistungsgewerkschaft FSC innerhalb des Dachverbands Comisiones Obreras (CCOO). Er sitzt in einem schmucklosen Büro im sechsten Stock eines braunen 70er-Jahre-Bunkers der Madrider City und versucht, den nötigen Kampfgeist zu bewahren. "Die Regierung hat Angst vor den Mächtigen, vor den Schwachen offenbar nicht. Deshalb schränkt sie deren Garantien und Leistungen ein, statt die Vermögenssteuer neu aufzulegen, die Körperschaftssteuer zu erhöhen oder Investment-Gesellschaften stärker zu besteuern." Der Streik soll zeigen, dass nicht nur die Finanzmärkte, sondern auch die Erwerbstätigen eine mächtige Kraft sein können. Doch als erstes müssen die Gewerkschaften diesmal die zweifelnde Basis überzeugen. "Wir sind dabei, umzudenken", sagt Fossoul selbstkritisch. "So wenig wir uns noch auf die Sozialisten verlassen können, so wenig können wir von vornherein auf den Rückhalt des Volkes zählen." Als man Anfang Juni den Generalstreik für Ende September beschloss, wunderten sich viele: Warum mit so viel Vorlauf? "Eine tiefe Krise", sagt Fossoul, "provoziert unsolidarisches Verhalten. Wir müssen den Leuten ausführlich erklären, was den Streik in dieser Situation rechtfertigt".

Francisco Hernando (oben), in der Siedlung südlich von Madrid stehen die meisten Läden leer, nur ein paar Quadranten sind leidlich bevölkert

Tatsächlich: Der Aufruf zum eintägigen Beamten-Warnstreik am 8. Juni gegen die fünf- bis zehnprozentige Gehaltskürzung wurde nur mangelhaft befolgt. Derweil sehen die eigentlichen Verlierer der Krise, die Arbeitslosen, in den Gewerkschaften wenig mehr als Interessenverbände jener Festangestellten, die durch den Anspruch auf eine hoch dotierte Entschädigung bisher ordentlich für den Kündigungsfall abgesichert waren. Einen geeinten Aufschrei gegen den sozialen Druck darf man also für den 29. September kaum erwarten.

In der Schlange der Arbeitslosen

Kommt der Aufschrei überhaupt? Derzeit, scheint es, werden Frust, Verzweiflung und Wut eher heruntergeschluckt als herausgeschrien. Auf der Straße macht sich die Krise nicht unmittelbar bemerkbar. Noch befinden sich die Leidtragenden in Deckung, fast wie jene frühmorgendliche Schlange vor dem Arbeitsamt des Barrio del Pilar im Madrider Norden, die nur zu sehen ist, wenn man Bescheid weiß und hinters Haus tritt. Hier stehen eine Stunde vor Schalteröffnung etwa 40 Menschen an, manche zum ersten, viele zum x-ten Mal. Eine ältere Frau weint und wird von einer jüngeren beruhigt, ein junger Kerl nutzt den Auflauf für eine Werbe-Umfrage: Welche Marke rauchen sie und warum? In der Tat, geraucht wird reichlich. Auch Pilar Gumiel zündet sich eine Zigarette an. Die 54-Jährige hatte zuletzt als Putzfrau im Krankenhaus gearbeitet. Noch für zwei Monate wird sie die Sockel-Unterstützung von 429 Euro erhalten. Sie und ihr Mann - ebenfalls arbeitslos - müssen derweil die restliche Hypothek für die gemeinsame Wohnung aus Erspartem bestreiten. "Glücklicherweise helfen unsere zwei erwachsenen Kinder aus", sagt Gumiel, "die bezahlen mal den Einkauf, mal die Stromrechnung. Anders ginge es nicht".

Spontan mischt sich der Mann neben ihr ein: "Und bei alldem stehen wir ruhig hier und gehen nicht mit der Pistole auf die Straße." Er zeigt auf die Grünfläche im Hintergrund. "Wäre ich nicht bei meiner Freundin untergekommen, dann müsste ich jetzt da auf der Parkbank schlafen - oder im Knast." Er schimpft über die Flickschusterei der Regierung und sagt: "Zapatero kann froh sein, dass wir alle noch stillhalten. Wären die Konservativen an der Macht, hätte es bestimmt längst einen Aufstand gegeben."

Juan José Dolado hat kürzlich erst mit Zapatero konferiert. Er gehört zu einer Gruppe von 100 Wirtschaftsweisen, die direkt beim Regierungschef für eine entschiedenere Reform des Arbeitsmarkts plädierte. Von seinem Büro an der Madrider Universität Carlos III. sieht Dolado hinaus zur campuseigenen Zedernallee. "Der offene Protest bleibt aus", sagt er, "weil der größte Teil junger Arbeitsloser nach wie vor bei den Eltern lebt oder ins Elternhaus zurückkehrt". Dolado selbst ist gerade von einer zehnprozentigen Gehaltskürzung betroffen. Er hält sie für annehmbar. Den Streik unterstützt er nicht. "Spanien leidet unter einem zweigeteilten Arbeitsmarkt. Festangestellte und Beamte haben Verträge mit Schutzklauseln, als stammten sie noch aus der alten UdSSR, während Leute mit Zeitverträgen scheinbar im heutigen Hongkong arbeiten. Ohne die Überwindung dieses Dualismus' werden wir zu keinem dynamischeren Produktionsmodell vorstoßen können."

Der Wechsel des modelo productivo ist in aller Munde. Das bisherige Muster nennt Dolado "bulimisch": "In Boomzeiten verdaut der Markt jede Menge billige Arbeitskräfte, die er zu Krisenzeiten massenhaft wieder abstößt." Die Alternative wäre: besser qualifizierte Arbeitskräfte in krisensichereren Branchen mit hoher Wertschöpfung. Dazu müsste allerdings zunächst das Bildungssystem überholt werden, das zurzeit noch Abbrecher-Quoten von 30 Prozent an Schulen und Universitäten aufweist. Viele dieser "Aussteiger" wechselten während der Boomjahre problemlos in die Bau- und Immobilienbranche. Beide Branchen liegen nun am Boden - und ihre Auswüchse noch immer zu besichtigen.

ENRIQUE FOSSOUL DE LA SIERRA, Generalsekretär der Gewerkschaft CCOO: "Die Regierung hat Angst vor den Mächtigen, vor den Schwachen offenbar nicht"

Baugruben und Laternenreihen im Ödland

30 Kilometer südlich von Madrid, eingeklemmt zwischen zwei Autobahnen, ragt die Monster-Siedlung "Francisco Hernando" aus der staubigen Ebene. Hier wollte der gleichnamige Bauunternehmer ursprünglich 13500 Wohnungen gewinnbringend verkaufen. Rund 5500 schlug er los, verteilt auf gut zwei Dutzend acht- bis zwölfstöckige Klötze. Dann kam die Krise, die Nachfrage stürzte ab, die Preise taumelten hinterher. Teile der weiträumigen Siedlung sind bis heute Rohbauten, brachliegende Baugruben und Laternenreihen im Ödland. Am Rand der Anlage liegt ein künstlicher Park, benannt nach Hernandos Gattin; eine Verkehrsinsel wird gekrönt durch eine lebensgroße Skulptur von Hernandos Eltern. Man würde das Panorama gespenstisch nennen, wenn nicht doch ein paar Quadranten leidlich bevölkert wären. Hier leben vor allem geringverdienende Spekulations-Verlierer - Familien, die zur Boomzeit auf Pump eine Wohnung (oder Zweitwohnung) kauften, deren Hypothek ihnen mittlerweile die Luft abschnürt; oder Familien, die anderswo eine unterfinanzierte Eigentumswohnung abgeben mussten und jetzt von jenen mieten, die ihre ehemalige Investition nicht mehr los werden. Nur wenige sind aus freien Stücken hier. Bisher gibt es weder eine Apotheke noch Ärzte im Viertel. Die meisten Ladenlokale in den Erdgeschossen sind zugemauert, weil die Besitzer inzwischen ihre Kreditwürdigkeit eingebüßt haben. An der Zufahrtsstraße sitzt Jesús Salvat in einem stickigen Container und verkauft im Auftrag einer Bank 45 Wohnungen zu Sonderpreisen. Zwei bis drei Neugierige schauen pro Tag vorbei. Viele kommen ihm wie Geier vor: "Die glauben", sagt Salvat "wir verschenkten die Wohnungen schon".

JUAN JOSE DOLADO, Universität Getafe: "In Boomzeiten verdaut der Markt jede Menge billige Arbeitskräfte, die er zu Krisenzeiten massenhaft wieder abstößt"

Spaniens Banken geben allerdings nicht nur Wohnungen weg, sie ziehen auch welche ein. In Barcelona ruft mittlerweile der Verein "Afectados por la hipoteca" all jene zusammen, die ihre Hypothek nicht mehr begleichen können und von den Banken mit Räumung bedroht werden. Das betrifft nach Vereinsangaben mittlerweile 350000 Menschen im Land. Zum sonntäglichen Treffen in einem winzigen Nachbarschaftsheim der Altstadt kommen etwa zwei Dutzend Betroffene. "Den Opfern fällt es schwer, die Scham zu überwinden", sagt Lucía Delgado, eine der Vereinsaktiven. Marta Mba Ayecaba schildert trotzdem ihren Fall, atemlos, verzweifelt, voller Wut gegen die Bank, deren Mitarbeiter ihr und ihrem Mann Carlos 2006 zu einer allzu optimistisch kalkulierten Hypothek mit 30 Jahren Laufzeit verhalfen und deren Mitarbeiter jetzt nichts wissen wollen von den Engpässen in der Arbeitslosigkeit. In Kürze könnte das Paar mit zwei Kindern die Wohnung verlieren und zu alledem auf 130000 Euro Schulden sitzenbleiben. Der Verein versucht über Kataloniens Grüne eine Gesetzesänderung anzustoßen, die es erlauben würde, Hypotheken schuldenfrei aufzulösen - durch Überschreibung der belasteten Wohnung an die Bank. Die Initiative hat wenig Aussicht auf Erfolg: Derzeit wird die Regierung kaum etwas beschließen, das weitere Schatten auf das international unter Verdacht geratene Vermögen spanischer Banken wirft.

Bankenviertel Nuevos Ministerios: Derzeit wird die Regierung kaum etwas beschließen, das weitere Schatten auf das international unter Verdacht geratene Vermögen spanischer Banken wirft

Das Schlimmste kommt noch

Vor kurzem zog die Caritas in Barcelona Zwischenbilanz. 2009 baten 51000 Menschen die kirchliche Hilfsorganisation um Unterstützung, 89 Prozent mehr als noch 2007. Und bis Ende Mai 2010 lagen schon wieder 40500 neue Anfragen vor. Mercè Darnell, die Koordinatorin der Hilfsprogramme, sagt: "Unseren Sozialarbeitern sitzen immer mehr Leute aus der Mittelklasse gegenüber. Denen können wir am allerwenigsten helfen. Denn denen nützt letztlich nur ein wirtschaftlicher Aufschwung."

Die Spanier, meint Mercè Darnell, haben sich überschätzt. Der lang andauernde Boom vermittelte ihnen das Gefühl verlässlichen Wohlstands. Das führte zu unbesorgter Konsumfreude und zum Besitz auf Kredit. Darnell erinnert an ein katalanisches Sprichwort: Den Arm weiter ausstrecken als der Ärmel reicht. Banken und Spekulanten hatten leichtes Spiel. "Ich fürchte", sagt Darnell am Ende des Gesprächs, "dass das Schlimmste noch vor uns liegt. Menschen funktionieren nicht wie die Börse. Viele werden dauerhaft abstürzen. Diejenigen, die in zehn Jahren unter der Brücke schlafen, das sind die Krisenopfer von heute."