Mehr als 2,25 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. 750000 Frauen und Männer arbeiten in Heimen und ambulanten Diensten und tun viel für die ihnen Anvertrauten. Seit dem 1. August steht allen Beschäftigten ein Mindestlohn zu - aber schon gibt es Versuche, ihn mit allerlei Tricks zu umgehen

Blick in die Seniorenstiftung Prenzlauer Berg vom Garten aus

Von Claudia von Zglinicki (Text) und Renate Kossmann (Fotos)

Morgens in Berlin

Früh um sieben, Frau Voss ist schon wach, als Petra John das kleine Zimmer betritt. "Wollen Sie heute baden?" Die zarte Frau mit den grauen Löckchen lächelt: "Da hab ich ja Glück!" Petra John fährt sie im Rollstuhl über den belebten Flur ins Pflegebad. Als erstes putzt sie noch mal schnell die große Wanne. "Hmm..." Frau Voss überlegt. "Hier bin ich schon oft gewesen." Mit Hilfe der Betreuerin setzt sie sich vorsichtig auf den Lifter, der sie in die Wanne schwenkt. Sie murmelt: "So hilflos..." Petra John hockt sich hin und sieht ihr in die Augen. "Aber Frau Voss, deshalb sind Sie doch hier. Und das ging doch eben sehr gut." Frau Voss sinkt in einen Berg aus Badeschaum und genießt. Sie ist 99.

"So alt wollte ich gar nicht werden", sagt sie. "Bis 70 hab ich gearbeitet, im eigenen Kohlenladen. Da haben wir das Holz noch selber geschnitten. Die Arbeit hat mich jung gehalten! Aber den Rücken waschen Sie mir noch?" "Klar, und ich schaue nach, ob am Hals schon Radieschen wachsen!" Petra John geht flink das Bett machen und ist wieder da. Holt Frau Voss aus der Wanne - "nicht ohne Lifter, ich merke meinen Rücken auch so schon" -, trocknet sorgsam die Zehen ab. "Sie sind mein Engel", seufzt Frau Voss. "Ach, muss ich hier landen... Die Söhne wollten mich ja zu sich nehmen, aber dann haben doch nur die Schwiegertöchter die Arbeit!" Ihre Söhne sind selbst längst in Rente. Eine Ansage hallt durchs Bad: "Guten Morgen, liebe Bewohner! Heute ist Donnerstag..."

Die Seniorenstiftung Prenzlauer Berg in Berlin wurde 1996 gegründet. Sie betreibt vier Häuser an zwei Standorten, in denen insgesamt rund 700 Menschen leben. Der Vorstandsvorsitzende Wilfried Brexel nennt als Ziel der Stiftung "Lebensfreude für die Bewohner, egal, wie ihr gesundheitlicher Zustand ist. Deshalb sind Feste wichtig. Und eine Atmosphäre, die an Zuhause erinnert, keine Hospitalisierung."

350 Frauen und Männer arbeiten bei der Stiftung, 60 Prozent in Pflege und Betreuung sind ausgebildete Fachkräfte. Damit ist die Berliner Vorgabe von 52 Prozent mehr als erfüllt. Sie verdienen laut Betriebsrat anfänglich elf Euro brutto pro Stunde, die nicht examinierten Pflegekräfte bekommen 9,40 Euro. Das liegt über dem seit dem 1. August für die Branche vorgeschriebenen Mindestlohn. Danach müssen jetzt in den neuen Bundesländern 7,50 und in den alten 8,50 Euro pro Stunde gezahlt werden - allen Beschäftigten, die in der so genannten Grundpflege arbeiten. Es ist ein Anfang, wenn man bedenkt, dass bislang manche Pflegehilfskräfte gerade einmal 3,50 Euro brutto in der Stunde bekommen und trotz Vollzeitstelle einen Nebenjob brauchen, um von ihrem Einkommen leben zu können. 72 Prozent der Löhne in dem Bereich zählen zu den Armutslöhnen.

"Der Mindestlohn in der Altenpflege war längst fällig", sagt Marcus Kappler, Betriebsratsvorsitzender der Seniorenstiftung Prenzlauer Berg. Er ist Computertechniker. Nach seinem Zivildienst blieb er in der Stiftung. Inzwischen ist der 29-Jährige einerseits Betriebsratsvorsitzender, andererseits Anwenderunterstützer, der den Kolleg/innen bei der Nutzung der Computerprogramme zur Seite steht. Petra John ist Kapplers Stellvertreterin im Betriebsrat, weil sie, wie sie selbst meint, eine "Gerechtigkeitsfanatikerin" ist. Beruflich hat sie sich für die Arbeit als Betreuungsfachkraft entschieden und gegen die klassische Pflege. Was sie am Morgen für Frau Voss geleistet hat, läuft unter "Wasch- und Anziehtraining".

Sommerfest in der Seniorenstiftung Prenzlauer Berg, Berlin: Petra John tanzt mit einer Heimbewohnerin

Distanz und Nähe

Die 48-Jährige hat in der DDR Mechanikerin gelernt und ein Ingenieurstudium absolviert. Das war ihr Traumjob, Technik war ihre Welt. Als ihr Betrieb dicht machte, plante sie ihr Berufsleben neu. 1995 bis 1998 ließ sie sich zur Altenpflegerin ausbilden. Die behände Frau hat drei Kinder und seit kurzem einen kleinen Pflegesohn, der Ende August eingeschult wurde. Hat sie ein Helfersyndrom, wie man von vielen im Pflegedienst sagt? Sie lacht. "Ach was, der Junge kommt aus unserer Familie, da mussten wir doch helfen! Und in der Arbeit bemühe ich mich um Distanz und Nähe."

Wasch- und Anziehtraining mit Herrn Koppe (67) steht als nächstes auf Petra Johns Plan. Der kräftige Mann mit dem Tattoo hatte einen Schlaganfall. Beim Frühstück in der großen Wohnküche spricht er von seiner Frau, die eine Pension betreibt. Es steigen ihm die Tränen in die Augen. "Ich bin so weich geworden nach dem Unfall", sagt er kopfschüttelnd. Er war Dachdecker, hat immer Sport getrieben. "Und jetzt das! Aber ich zieh hier wieder aus, das können Sie glauben!" Im Stillen, sagt Petra John später, glaubt er es selbst nicht mehr.

Presseschau heißt das, was sie später für den Wohnbereich anbietet. Sie blättert in einer Zeitung, greift Schlagzeilen auf und schwatzt mit allen, die darauf eingehen wollen und können. Es fällt ihr leicht. Zehn Menschen sind nach dem Frühstück bei ihr in der Wohnküche geblieben, manche aus Interesse, andere weil sie eben gerade da sitzen. Eine geistig bewegliche Rollstuhlfahrerin von jugendlichen 73 liest eine Zeile über teures Obst vor und sagt ihre Meinung. Andere dämmern oder murmeln Unverständliches vor sich hin. Petra John schafft es, sich auf jeden der so unterschiedlichen Menschen einzustellen. Nebenher reicht sie etwas zu trinken, streicht einer Frau über die Schulter. Und lädt zum nächsten Angebot ein: Seidenmalerei. Ihre Kollegin versammelt gleichzeitig Bewohner/innen zu "Bewegung und Rhythmik" - und schon ist Mittag. Vorher muss Petra John wenigstens ein paar Minuten für die Dokumentation ihrer Arbeit nutzen. Die Zeit reicht nie.

Gute Leute muss man halten

Es war ein langer Weg bis zum Mindestlohn. Im Frühjahr 2008 beschlossen ver.di und die Arbeiterwohlfahrt, sich gemeinsam für die Aufnahme der ambulanten und stationären Pflege ins Arbeitnehmerentsendegesetz, also für einen Mindestlohn, einzusetzen, damit das stetige Sinken der Einkommen endlich gestoppt wird. Hinzu kam, dass Personalmangel bundesweit ein Kernproblem in der Altenpflege ist. Und gute Leute muss man halten - auch, indem sie ordentlich bezahlt werden. Etliche ausgebildete Pfleger/innen sind inzwischen in die Schweiz oder nach Skandinavien gegangen. Im Juni 2009 begann die von der Regierung eingesetzte Verhandlungskommission ihre Arbeit. ver.di wollte neun Euro durchsetzen - bundesweit. Der Arbeitgeberverband Pflege und die Diakonie bestanden auf dem Unterschied zwischen Ost und West und drückten den Stundensatz. Der Vertreter des Arbeitgeberverbandes erklärte, der Mindestlohn dürfe den Aktionären der börsennotierten Konzerne "auf keinen Fall die Rendite verhageln". Ende März lag der Abschluss vor. "Die Kröten musste ver.di schlucken, denn ohne Einigung in der Kommission wäre es zu gar keinem Ergebnis gekommen", sagt ver.di-Sekretär Jürgen Wörner mit immer noch spürbarer Wut.

Oben: Ein Angebot: Seidenmalerei Unten: Betreuungsfachkraft Petra John

Schon im August hat ver.di eine Hotline für Beschäftigte geschaltet. Es zeigte sich schnell, dass viele Arbeitgeber, vor allem private Träger von Altenheimen, Rechen- und andere Tricks ausprobiert haben, um den Mindestlohn zu umgehen. So wurde behauptet: Für Sie gilt das nicht. Oder Einmalzahlungen, Leistungszuschläge und Fahrtkostenzuschläge wurden plötzlich in den Stundenlohn einbezogen, damit der über dem Mindestlohn liegt. Am Ende steht dann ein Monatseinkommen wie zuvor, nur die Summe für die Stunde ist höher, die Bestandteile sind hin- und hergeschoben worden. Was verboten ist, wie Jürgen Wörner den Anrufenden erklärte. Beschäftigte aus mehr als 50 verschiedenen Einrichtungen haben sich an den ersten zwei Tagen schon gemeldet, meist sprachen sie nicht nur für sich, sondern zugleich für viele Kollegen. Alle, die nachfragten, verdienen weniger als 7,50 Euro bzw. 8,50 Euro - noch.

Nachts in Nordrhein-Westfalen

Anne Jakowski (Name geändert) ist 51, examinierte Altenpflegerin in einem Heim der Arbeiterwohlfahrt in einer Stadt in NRW. Es ist ein warmer Abend, sie hat Nachtdienst, wie immer, seit 15 Jahren. Bis Ende 2009 rotierten die Kolleg/innen der Nachtschicht, betreuten abwechselnd Wohnbereiche mit mehr oder weniger Bewohner/innen, mehr oder weniger Belastung. Das war in Ordnung, fand Jakowski. Seit Januar ist sie jedoch in der Regel allein für dieselben drei Etagen mit mehr als 60 Menschen verantwortlich, viele von ihnen Demenzpatienten. Eine Klage des Betriebsrats gegen diese Einteilung hatte keinen Erfolg.

Um 21.15 Uhr fängt die Schicht an. Dienstübergabe im Stehen, in aller Eile. Da klingelt es auch schon. Ein Bewohner will zur Toilette, der nächste findet keine Ruhe und kann nicht schlafen, ein anderer braucht frische Bettwäsche. Das Klingeln prägt Anne Jakowskis Arbeit. Sie hastet zwischen den Stockwerken hin und her. Eine Diabetikerin muss noch etwas essen. Ist etwa jemand gestürzt? Ein Mann fordert "jetzt endlich" sein Frühstück. Dabei hat der Nachtdienst erst begonnen.

Ein Kontrollgang mit Pflegemaßnahmen ist fällig. Praktisch bedeutet das zum Beispiel, Betten zu beziehen und Teilwaschungen durchzuführen, wie es in der herben Fachsprache heißt. Das Klingeln hält trotzdem an. Wenn es später in der Nacht ruhiger wird, muss Anne Jakowski die Dokumentation führen. "Zeitnah" soll das geschehen. "Dass das Klingeln Vorrang hat, will keiner aus der Leitung hören", sagt sie. "Als mir in einer Nacht mal gar keine Zeit für die Dokumentation blieb, sollte ich die Gründe dafür zusätzlich dokumentieren. Das habe ich als Strafe empfunden. Und es benachteiligt die Bewohner noch mehr!"

Oben: Mit Hilfe aufstehen Unten: Unterstützung beim Trinken

Sie ist Altenpflegerin geworden, weil der Beruf sie fasziniert. Sie wollte Zuwendung geben. Doch das, sagt sie, gehe heute nicht mehr. Anfangs war sie glücklich in ihrer Arbeit. Die Pflegeplanung schrieb noch nicht so viele Aufgaben für die Nächte vor. Es blieb Spielraum. Selbst die Begleitung Sterbender war möglich. Sich zu einem Menschen, der in dieser Nacht für immer geht, ans Bett setzen und seine Hand halten, wenigstens für Minuten. Das ist vorbei, sagt sie. Wie es jetzt in ihrem Haus läuft - Nahrung reichen, dafür sorgen, dass die Bewohner trocken und sauber sind - tut ihr weh. Sie sagt: "Die Arbeit mit Menschen ist wunderbar, aber man muss Zeit und Herz dafür haben. Wenn ich nach dem Dienst früh ins Bett gehe, sehe ich oft noch Bewohner vor mir, die mehr Zuwendung gebraucht hätten."

Mit den Zuschlägen für den Nachtdienst kommt Anne Jakowski auf durchschnittlich 1700 Euro netto im Monat. Zu wenig, sagt sie. Die Summe entspricht nicht der schweren Arbeit, der hohen Verantwortung, dem Verzicht auf Pausen und pünktlichen Arbeitsschluss. Neuerdings soll die Altenpflegerin nachts auch noch die Medikamente für alle 60 Bewohner/innen überprüfen.

Auf dem Weg zum Pflegekollaps

Detlev Beyer-Peters bestätigt die Erfahrungen seiner Kollegen. Er ist Sprecher der ver.di-Landesfachkommission Pflege in Nordrhein-Westfalen, Krankenpfleger von Beruf, Betriebsratsvorsitzender bei der Arbeiterwohlfahrt. Seit 1994 erlebt er, dass immer weniger Personal immer mehr schaffen soll. Parallel ziehen immer ältere und schwerer erkrankte Menschen in die Heime, beobachtet Beyer-Peters. "Sie kommen immer später, weil der Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘ gilt. Ich bin auch für den Ausbau des ambulanten Bereichs, aber nicht um jeden Preis. Für viele Menschen ist es sinnvoll, in einem Heim zu leben, schon wegen der Kontakte zu anderen."

Die Strukturen in der Altenpflege müssten sich ändern; dezentrale, kleine Wohnbereiche schlägt er vor. ver.di fordert ein Personalbemessungsverfahren auf der Grundlage des wirklichen Bedarfs in jedem Heim - "statt lumpiger ‚Orientierungswerte‘, wie hier in NRW, nach denen sich keiner richten muss", sagt Detlev Beyer-Peters. Er warnt vor dem Pflegekollaps, wenn immer mehr gespart und immer mehr Personal abgebaut wird.

Das Finanzierungsproblem besteht bundesweit. Es herrscht Konkurrenzkampf zwischen den Trägern von Pflegeeinrichtungen, die auf dem Markt um Kunden werben - und oft nicht mit Qualität, sondern mit niedrigen Preisen. Private Unternehmen müssen Rendite-Erwartungen erfüllen, auf Kosten von Arbeitskräften und Bewohnern.

Manchmal fällt das Erinnern schwer

"Wer ambulante statt stationärer Betreuung fordert, hat meist nur die billigere Lösung im Sinn", sagt Gabriele Feld-Fritz, aus der ver.di-Bundesverwaltung. "Dabei ist ambulante Pflege nur preisgünstiger, weil sich viele Angehörige - fast immer Frauen - zusätzlich um die alten Menschen kümmern. Starre Angebote, hier ambulant, da stationär, werden den Bedürfnissen nicht gerecht. Viele wohnortnahe und differenzierte Angebote wären die bessere Lösung."

Kolleginnen von Anne Jakowski sollen laut Dienstanweisung Bewohner/innen noch im Nachtdienst, ab sechs Uhr, wecken, um sie zu waschen. Eine Zumutung und ein Qualitätsmangel in der Pflege. Eine Pflegerin hat sich dagegen zur Wehr gesetzt, das Verfahren läuft. ver.di unterstützt sie darin, diesen Teil ihrer Arbeit aus Gewissensgründen zu verweigern.

Weniger geht nicht

Mindestlohn in der ambulanten und stationären Pflege:

Ab 1. August 2010 in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern 7,50 Euro, in den anderen Bundesländern 8,50 Euro brutto pro Stunde; ab 1. Januar 2012 7,75 bzw. 8,75 Euro; ab 1. Juli 2013 8 bzw. 9 Euro.

ver.di-Mindestlohn-Hotline 0180/2224433 (6 Cent pro Anruf aus dem Festnetz, mobil maximal 42 Cent pro Minute)

www.bewegung-altenpflege.de

www.lohnspiegel.de/main/umfrage