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Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud | Die Ich-Erzählerin fliegt über den Ozean. Sie landet, der Flughafenbeamte betrachtet ihren Pass, den noch die untergegangene DDR ausgestellt hat: „Sind Sie sicher, dass es dieses Land wirklich gibt?“ Neun Monate wird die Autorin in Amerika bleiben, sechs davon in Los Angeles Stipendiatin der „Stiftung“ sein. Ist es eine Reise, eine Auswanderung, eine Flucht? Zu Hause, in Deutschland, tobt in den Medien die Debatte über die Schriftstellerin als Informantin der Staatssicherheit. Vergessen haben viele die „Opfer-Akte“ der Autorin, die belegt, wie sie selbst bespitzelt wurde. Jetzt sucht sie Abstand. Manche vermuten, sie gehe in die Emigration. Doch sie wird nicht in den USA bleiben. Sie reflektiert über ihr Leben, das eng mit deutscher Zeitgeschichte verknüpft ist. Sie lernt andere Getty-Stipendiaten kennen und trifft in der Stadt der Engel eine Frau, die für sie zu einem Engel wird. In einem Roman ist das möglich. cvz

SUHRKAMP 2010, 415 S., 24,80 €


Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit | „Man hat mir abgeraten, darüber zu schreiben.“ So beginnt Norbert Gstreins Schauerroman, klassisch unheilvoll, seinen Bericht. Das Buch hält die Spannung bis zum grandiosen Ende. Mögliche Ähnlichkeiten, die mit Geschehnissen im Hause Suhrkamp bestehen könnten, werden sorgsam codiert. Der ehemalige Lektor hat fluchtartig den Wiener Verlag verlassen, in dem die Witwe des Verlegers ihre Herrschaft angetreten hat. Die Beschreibung ihrer Verirrungen ist traurig und eine großartige Studie dessen, wie zerstörerisch sich esoterische Halbwahrheiten bei einem eigentlich religiös veranlagten Menschen auswirken können. Dadurch ist das Buch eine Fallstudie, die auch ganz ohne „Enthüllung“ funktioniert. klix

CARL HANSER VERLAG, MÜNCHEN, 304 S., 19,90 €