Im Eifer der Einheit

Annette Jensen: Im Osten was Neues | Wie war das eigentlich vor 20 Jahren, als Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl, CDU, den ehemaligen DDR-Bürger/innen blühende Landschaften versprach? Vielerorts blüht es jetzt im Osten ja ganz prächtig, weil die Industrie, die die DDR einst hatte, nahezu platt gemacht wurde und sich die Natur ihr Terrain zurück erobern konnte. Aber genau solche Landschaften hatte der Einheitskanzler nicht gemeint. Er hatte Wohlstand für alle versprochen und die Treuhand geschickt. Und dieser, ein zusammen gewürfelter Haufen vermeintlich verantwortlich Handelnder, fiel nichts Besseres ein, als den Ausverkauf der neuen Bundesländer zu besiegeln. Nur, von dem Geld ließ sich nicht viel Neues aufbauen. Und so verloren binnen kürzester Zeit über eine Million Menschen ihre Arbeit, fast 1,5 Millionen waren in Kurzarbeit und über 550000 wurden vorzeitig in den Ruhestand befördert. Da hatten es auch die Gewerkschaften nicht leicht, zwei Beine auf den Boden zu bekommen. Wo sollte man ansetzen, wenn mit den Arbeitsplätzen ganze Industriestandorte wegbrachen? Und wie könnte eine Vereinigung der Gewerkschaften funktionieren, wo doch den Ost-Gewerkschaftern der Ruch nachhing, stets dem Staat und nicht den Arbeitern verpflichtet gewesen zu sein?Für die IG Metall hat sich die Autorin Annette Jensen auf den Weg gemacht, die letzten 20 Jahre, vor allem aber die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung Revue passieren zu lassen. Auf ihrem Weg durch den Osten hat sie reichlich Fakten und Geschichten von Menschen, Unternehmen und Landschaften zusammengetragen und daraus eine spannend zu lesende Entwicklungsgeschichte geschrieben. Allein das erste Kapitel, das sich den Machenschaften der Treuhand widmet, liest sich wie ein Krimi. Was einst alles unter Recht und Gesetz geduldet wurde, scheint im Rückblick nahezu undenkbar. Aber irgendwie gingen alle seinerzeit ungewöhnliche Wege im Osten. Berthold Huber, heute Vorsitzender der IG Metall, empfing 1990 in Leipzig in seinem Hotelzimmer von Nöten geplagte Beschäftigte oder besuchte sie gleich vor Ort in ihren Werkhallen: „Ich bin da einfach reingegangen“, sagt er – unter harschem Protest der noch aktiven alten Gewerkschaftsfunktionäre. Was am Ende übrig blieb vom Osten, was neu entstand, hat Annette Jensen anhand vieler Beispiele anschaulich zusammengefügt. Einer ihrer Protagonisten aus dem Osten antwortet auf die Frage, was sie in den Westen hinüberretten konnten: „Viel mehr als das grüne Ampelmännchen war da ja nicht drin.“ Die 3000 Textilarbeiterinnen aus Apolda, wo heute auf dem Weimarer Berg noch 35 Frauen Arbeit haben, würden ihm sicherlich zustimmen. Petra Welzel

ROTBUCH 2010, 304 S., ISBN 978-3-86789-116-5, 14,95 €


Rachel Kochawi: Brot der Armut | „Die Geschichte eines versteckten jüdischen Kindes“, so der Untertitel, spielt hauptsächlich in der Nachkriegszeit. Damit schon ist es eine ganz ungewöhnliche Erzählung, aber eine wahre Geschichte – nur Namen und Orte wurden verändert. Es ist das erschütternde Schicksal des Mädchens Keren, das als Kriemhild aufwächst. Ella Stach, die „Mutter“ genannt wird, war Dienstmädchen einer jüdischen Arztfamilie in Warschau – bis zum Überfall der Deutschen auf Polen. Bevor die Eltern ermordet wurden, gaben sie ihr das Kind in Obhut, mit dem Auftrag, sobald es wieder möglich sei, die jüdischen Wurzeln zu offenbaren. Doch Ella lebt weiter mit dem Kind zusammen und lässt es ihr Schicksal teilen, als Flüchtling im Nachkriegsdeutschland. Erst spät entdeckt Keren ihre wahre Identität und es enthüllen sich alle Rätsel ihrer Existenz. Klix

DAS BROT DER ARMUT, VERLAG EDITION AV, LICH/HESSEN, 2010, 333 SEITEN, 18 €


Taras Grescoe: Der letzte Fisch im Netz | Dem kanadischen Autor ist ein seltenes Experiment gelungen: Sein Buch über die weltweiten Fischbestände beschreibt nicht nur die Bedrohung dieser wichtigen Nahrungsquelle durch Schleppnetze und gigantische Industrieschiffe, sondern lässt den Leser auch in die Küchen von Vier-Sterne-Restaurants oder Fish-and-Chips-Buden schauen. Ganz nebenbei erfährt man auch noch viele spannende Details über Transportwege, das Laichverhalten verschiedener Großfischarten oder den internationalen Schacher um Fangquoten. Der mit vielen Preisen ausgezeichnete Journalist bezeichnet sich selbst als Liebhaber gut zubereiteten Fischs. Er ist von Amerika über Europa bis nach Asien gereist und hat jedes Kapitel mit einem Ort und einer Speise betitelt: New York – Seeteufel aus der Pfanne oder China – Haifischflossensuppe. Grescoe verschweigt weder den Hunger der afrikanischen Fischer noch die Schadstoffkonzentrationen auf vielen Tellern. Doch dem Autor kommt es immer auch darauf an aufzuzeigen, dass „wir die wichtigste Nahrungsquelle der Welt retten können“ – den politischen Willen dazu vorausgesetzt. aje

KARL BLESSING VERLAG, 560 S., 19,95 €


David Petersen: Mouse Guard Winter 1152 | Der zweite Band einer mit Fantasy-Elementen durchsetzten Comic-Geschichte über eine eigenständige Mäusezivilisation im Mittelalter. Wurden im ersten Teil Herbst 1152 vorwiegend die Hauptfiguren eingeführt, widmet sich die Fortsetzung diesmal ganz dem Ausfabulieren der geschaffenen Grundlagen. Im Winter bedroht eine Hungersnot das Mäusereich und so müssen die kampferprobten Wachtmäuse die gefährliche Vorratsbeschaffung übernehmen. Nicht nur Kälte, Schnee und natürliche Feinde machen den possierlichen Nagern dabei zu schaffen, sondern auch Gegner in den eigenen Reihen. Eine spannende und grafisch überzeugende Geschichte voll fantastischer Einfälle für alle Altersklassen. Die vermeintlich verlassenen Katakomben der gefährlichen Wiesel in dunklen Violett-Tönen kontrastieren wunderbar mit dem bläulich gefärbten Schnee, durch den eine Mäusekavallerie auf Hasen reitet. Lediglich die den Kapiteln vorangestellten Gedichte übertreiben mitunter ihren pathetischen Heldengesang. Aber das gehört wohl ebenso zum Fantasy-Genre wie das Schwert zum Barbaren. rist

CROSSCULT, 192 S., 16,99 €