Förderschüler haben keinen guten Ruf. Sie gelten als dumm, faul und ungezogen und haben es nach ihrer Schulzeit schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden. Das Bunte Haus, das ver.di-Bildungszentrum in Bielefeld, hat Tatjana dennoch eine Chance gegeben. Es wurde ein voller Erfolg

Zeit nehmen für die Ausbildung: Tatjana Nickel und ihr Lehrmeister und Küchenchef Hubert Schmid am Arbeitsplatz im Bunten Haus

Von Jenny Mansch

Plötzlich steht Tatjana Nickel da. Sie kommt öfter hier im Bunten Haus vorbei, dem ver.di-Bildungszentrum, um ihre ehemaligen Kollegen vom Küchenteam und vom Haus zu besuchen. Heute ist sie auf Umwegen aus Sennestadt rübergekommen. Erst einige Tage ist es her, seit ein falsch beladener Laster auf der A2 eine kleine Fußgängerbrücke zu Klump gefahren hat. Viele müssen jetzt Umwege in Kauf nehmen.

Im nahegelegenen Bunten Haus erscheinen heute aber alle angemeldeten Seminar-Gruppen pünktlich. Kurz vor den ver.di-Senioren aus Dortmund, die stilecht im 50er-Jahre-Reisebus um die Ecke biegen und hier übers Wochenende in Klausur gehen, kommen die Jugendlichen der externen Civil Academy. Sie wollen sich hier über bürgerschaftliches Engagement informieren. Bereits angereist sind die ver.di-Vertrauensleute aus Essen. Sie haben sich schon in einen der Tagungsräume zurückgezogen.

Mitten im Wald

Unterhaltsam und mit sonorer Stimme erläutert derweil der ver.di-Bildungsreferent Dirk Manten den Jugendlichen die Besonderheiten des Hauses. Es wurde Anfang der 90er-Jahre saniert. Doch mit dem einsetzenden Handyboom hatte der Architekt damals nicht gerechnet. Unter dem Kupferdach kann es deshalb zu Funklöchern kommen, die sich erst draußen auflösen. Dafür wurden die Fluchtwege im Gebäude perfekt ausgeklügelt und markiert, die Dirk Manten nun der Sicherheit halber erläutert. Auch außerhalb des Hauses droht keine Gefahr sich zu verirren. Auf der einen Seite kommt man wegen des Waldfriedhofes nicht weit. Und wer sich beim Spazierengehen im idyllischen Teutoburger Wald doch verlaufen hat, möge bitte längs der Oberleitungen marschieren, sie führen alle schnurstracks zurück ins Heim. Wer hingegen bewusst die nächste menschliche Siedlung ansteuern will, nimmt besser eines der Fahrräder, die im Schuppen zur Verfügung stehen.

Die Leistung zählt

Während die Jugend sich noch die ver.di-eigene Kneipe im Haus zeigen lässt, bleibt Zeit für ein Gespräch mit Tatjana. Schon beim ersten Kennenlernen staunt man: Wie ist dieses patente und bildschöne Mädchen auf einer Förderschule gelandet?

"Es war die Sprache", erzählt Tatjana. Ihre Eltern sind Russlanddeutsche, sie selbst war noch klein, als die Familie vor rund 20 Jahren nach Deutschland kam, höchstens drei oder vier, wie sie sagt. "Mit den paar deutschen Worten, die ich konnte, war ich dem Tempo in der Grundschule nicht gewachsen", sagt die heute 23-Jährige. Deshalb empfand sie es als wohltuend, als man in der Comenius-Schule auf ihr individuelles Lerntempo und Sprachverständnis einging. Auch mit ihrem Freundeskreis hatte sie Glück, dort spielte es keine Rolle, dass sie Förderschülerin war. Dennoch huscht Tatjanas Blick zur Seite, wenn sie darüber spricht. Auch sie weiß, wie über Jugendliche wie sie oft geurteilt wird.

Aber nicht an diesem Ort. Seit einigen Jahren schon eröffnet die ver.di-Bildungsstätte Chancen für Schüler mit unterschiedlichen Lernschwächen aus der Comenius-Förderschule. Auch Tatjana kam 2007 erst zum zweiwöchigen Praktikum im Zuge des Berufsförderprojekts Betrieb und Schule (BUS). "Und sie kam wieder!", ruft Dirk Manten von hinten. Zunächst an zwei Tagen der Woche machte sich die junge Frau nützlich. "Wir waren von Beginn an von ihr überrascht. Wir haben ihr gern die Chance gegeben, eine Ausbildung bei uns zu machen, und sind heute sehr stolz, dass sie als beste ihrer Klasse die Prüfung abgeschlossen hat", erzählt Brigitte Stelze, die Leiterin des Bunten Hauses. Tatjana hat mit ihrem IHK-Abschluss zur "Helferin im Gastgewerbe" gleichzeitig auch mühelos den Hauptschulabschluss erworben.

Neben ihren Aufgaben zur Pflege und Reinigung der Gästezimmer und der Seminarräume hat Tatjana vor allem in der Küche gearbeitet, unter den Fittichen von Küchenchef Hubert Schmid. "Uns interessiert nicht, was war. Uns interessiert nur, was du hier bringst", hat der 48-jährige Bad Tölzer ihr eingangs erklärt und damit reinen Tisch für die Auszubildende gemacht. Bei ihm lernte sie die Zu- und Nachbereitung beim Herrichten der Speisen, sämtliche Spül- und Reinigungstätigkeiten und wie man bis zu 75 Gäste kompetent und umgänglich bewirtet. "Tatjana war von Anfang an ein Selbstläufer", schwärmt der Koch von ihrer Selbstständigkeit und ihrer zupackenden Art. Noch dazu herrschen hier geradezu paradiesische Ausbildungsbedingungen. Es gibt nicht den Stress regulärer Restaurants mit A-La-Carte-Geschäft; die Mahlzeiten und Abläufe sind immer planbar, es bleibt Zeit, den Auszubildenden das nötige Wissen und Können zu vermitteln, statt es bereits vorauszusetzen.

Von der Helferin zur Fachkraft

Küchenchef Schmid war schließlich so von Tatjana überzeugt, dass er sie weiter empfohlen hat. Seit August ist die ehemalige Förderschülerin nun Azubi in der gehobenen Gastronomie. Sie lernt jetzt im renommierten historischen Gasthof Buschkamp in Sennestadt, wo sich schon Starkoch Wolfram Siebeck von der westfälischen Küche begeistern ließ. Hier wird Tatjana ihr Wissen über Weine und weitere gastronomische Finessen erweitern und die Prüfung zur Fachkraft im Gastgewerbe samt mittlerem Schulabschluss ablegen.

Dann kann die junge Frau eigentlich nichts mehr stoppen. Derweil hat im Bunten Haus schon die Ausbildung einer weiteren Förderschülerin begonnen. Auch ihr Abschluss der Klasse 10 ist nicht grade zukunftsträchtig. Aber das interessiert hier ja niemanden.


Abheben in die Zukunft

85 Jahre Buntes Haus

Am 19. September 1925 wurde das Richtfest gefeiert. Gebaut wurde es als "Reichsferienheim" für den Zentralverband der Angestellten, der seinerzeit mitgliederstärksten freigewerkschaftlichen Angestellten-Organisation unter dem Dach des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, dem späteren DGB. Hier sollte sich vor allem die Verbandsjugend an der frischen Luft des Teutoburger Waldes erholen.

Auch damals wurden schon Lehrgänge des Zentralverbandes, aber auch der SPD, der Sozialistischen Arbeiterjugend und der Kinderfreunde durchgeführt. 1933 wurde das Haus von der SA besetzt und bis Kriegsende für ihre Zwecke missbraucht. Ab 1946 war es wieder gewerkschaftliche Tagungs-und Schulungsstätte. 1952 erwarb die ÖTV das Bunte Haus und konzentrierte sich auf die gewerkschaftliche Erwachsenenbildung.

Seit dem Zusammenschluss zu ver.di gehört das 1990 sanierte Bunte Haus zu den zentralen Bildungseinrichtungen der Gewerkschaft.