Ausgabe 12/2010
Blindflug im Nebel
Ursel Sieber ist Medizinjournalistin und hat gerade das Buch veröffentlicht: Gesunder Zweifel. Einsichten eines Pharmakritikers. Peter Sawicki und sein Kampf für eine unabhängige Medizin. Berlin-Verlag 2010, 17,95 €
ver.di PUBLIK | Sie haben ein Buch über die umstrittene Abwicklung des Pharmakritikers und ehemaligen Vorsitzenden des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Peter Sawicki, unter Schwarz-Gelb geschrieben. Er hatte versucht, die Industrie dazu zu zwingen, den Nutzen ihrer Produkte nachzuweisen. Wird hier ungehemmt auf dem Rücken der Patienten und Versicherten Geld gemacht?
URSEL SIEBER | Ja, sicher. Deutschland bietet der Industrie nach wie vor beste Bedingungen - und das ist der freie Zugang zum Markt. Jedes Medikament darf sofort nach Zulassung verkauft werden. Jetzt hat der neue Bundesgesundheitsminister Rösler ein Gesetz durchgesetzt, das die Preise für Medikamente auch in Deutschland senken soll. Direkt nach Zulassung soll eine Frühbewertung stattfinden, die den Zusatznutzen von Medikamenten prüft.
ver.di PUBLIK | Das klingt doch gut...
SIEBER | Das ist auch grundsätzlich ein Fortschritt. Grundlage soll aber das Dossier des Herstellers sein. Und die Kriterien für die Nutzenbewertung sind in einer Rechtsverordnung festgelegt - auf die das Parlament keinen Einfluss hat. Das war ein Punktsieg der Industrie. Der jetzt vorliegende Entwurf dieser Rechtsverordnung ist wenig ermutigend. Zwar steht darin, dass die Bewertung des Zusatznutzens nach den international anerkannten Kriterien der evidenzbasierten Medizin stattfinden soll - aber es sind Ausnahmen festgelegt, die sehr fragwürdig sind und die Pharmafirmen geradezu einladen, keine Studien mehr aufzulegen, die das neue Medikament mit der bereits etablierten Therapie vergleichen. Das wäre ein großer Rückschritt - zum Schaden der Patient/innen.
ver.di PUBLIK | Sawickis These ist: Eine bessere Medizin ist möglich, ohne ständig mehr Geld in das Gesundheitswesen pumpen zu müssen. Welche Weichen müssten hierfür gestellt werden?
SIEBER | Es gibt einen ganz einfachen Weg. Wir müssten Medikamente und Behandlungen - auch die, die im Krankenhaus angeboten werden - frühzeitig auf ihren Zusatznutzen hin überprüfen, und zwar in Studien, die nicht von der Industrie durchgeführt werden, die also unabhängig sind und auf deren Ergebnisse die Firmen keinen Zugriff haben. Damit könnte man sehr schnell die Spreu vom Weizen trennen. Die Ärzte müssten mehr Zeit haben für ihre Patient/innen und ihnen ehrlich sagen, was man über den Nutzen weiß und vor allem auch, was man nicht weiß. Aber dazu müsste man Wissen generieren. Über den Nutzen oder Zusatznutzen von nicht-medikamentösen Behandlungen weiß man oft gar nichts. Wir leisten uns da einen Blindflug im Nebel.
ver.di PUBLIK | Wer könnte hierauf Einfluss nehmen?
SIEBER | Gerade jetzt, da die Krankenkassenbeiträge wieder gestiegen sind und der weitere Anstieg allein von den Arbeitnehmer/innen getragen werden muss, haben auch die Verwaltungsräte in den Krankenkassen eine andere Verantwortung. Sie müssten sich vielmehr zu Eigen machen, dass nur das bezahlt wird, was nachgewiesenermaßen nutzt. Mit nur einem Prozent der Krankenkassenbeiträge - das sind 170 Millionen Euro - könnte man in wenigen Jahren viel verändern. Die Versorgung würde besser für die Patienten; und nach allem was man weiß, nicht teurer.
INTERVIEW: Uta von Schrenk