Ausgabe 01/2011-02
Guten Appetit!
Frust und Ärger über die Verhinderung der Lebensmittelampel durch die Politik - das war gestern. Eine App unterwandert die Irreführung der Konsumenten durch die Industrie
Die Drei von checkitmobile (vlnr): Benjamin Thym, Martin Scheerer, Tobias Bräuer beim Praxistest mit Barcoo
Von Henry Steinhau
Kann ich dieses wohl geformte Ei essen oder enthält es womöglich eine Überdosis Dioxin? Ratlos stehen wir seit dem jüngsten Tierfutter-Skandal vor den Supermarktregalen. Doch viele haben die Antwort darauf praktisch in der Tasche - sofern sie ein internetfähiges Mobiltelefon besitzen, auch Smartphone genannt. In der kostenlosen Anwendung Barcoo kann man den auf das Ei gestempelten Strichcode scannen und erhält kurz darauf Informationen zu Herkunft und wahrscheinlicher Giftbelastung. Geliefert von Verbraucherschutzzentren und staatlichen Stellen, sind sie auch auf Webseiten oder per Anruf zu erfahren. Doch die Barcoo-Lösung hat einen smarten Vorteil: sie funktioniert vor Ort beim Einkaufen. Hinter dieser pfiffigen "App" - Abkürzung für Application, sinngemäß Erweiterungs- Programm - steckt die junge Berliner Internetfirma checkitmobile.
Technische Gegenwehr
"Wir haben uns gefragt, wie man die im Internet vorhandenen Verbraucherinformationen am schnellsten dort zugänglich macht, wo man sie braucht", erzählt Benjamin Thym, einer der drei Mitgründer. Da die meisten Mobiltelefone fotografieren können und internetfähig sind, machten sie sich an die Entwicklung von Barcoo. Dieses Programm wandelt im ersten Schritt den fotografierten Strichcode in die zugehörige "Warennummer" um. Im zweiten Schritt sucht es mit dieser Nummer in unterschiedlichen Verzeichnissen und Datenbanken nach Informationen zu dem jeweiligen Produkt, zu dessen Hersteller und zu aktuellen Informationen wie eben dem Dioxin-Gehalt. Mit dem Giftbelastungs-Service erlangte Barcoo in kurzer Zeit riesige Resonanz: "Im Januar hatten wir rund 20000 Neuanmeldungen pro Tag - zuvor waren es etwa 100000 pro Monat", berichtet Thym. Rund 1,7 Millionen Mal sei Barcoo bereits heruntergeladen worden, wobei zwei Drittel die App mit dem iPhone nutzen, ein weiterer großer Teil mit "Android"-Handies und andere mit Nokia- oder Samsung-Geräten. Für dieses Jahr erwarten Thym und seine Kollegen bereits zwei Millionen Downloads.
Das Barcoo-Konzept hält jedoch mehr bereit als die gezielte Eiersuche. Es ist ein vielseitiges und mächtiges Portal für mobil verfügbare Verbraucherinformationen, es bietet die politisch unterdrückte Lebensmittelampel, eine Sozialverträglichkeitsbewertung - und es nimmt den Begriff der Verbraucher-Mündigkeit ernst. Der Ärger um das Bio-Siegel und die Nährwert-Ampel (ver.di PUBLIK 3_2008) hat die Entwicklung von Barcoo befeuert: "Weil die Politik die Ampel nicht durchgesetzt hat, eine Mehrheit der Bevölkerung sie aber begrüßen würde, haben wir das eben einfach umgesetzt." Im Mittelpunkt von Barcoo steht daher die farbliche Kennzeichnung der zentralen Ernährungswerte Zucker und Fett, Fettsäuren und Salz (Natrium). Die Anwendung berechnet, ob diese Werte im grünen Bereich liegen oder eher im gelben oder gar roten. Und siehe da, kurz nach dem Strichcode-Scan erscheinen die Nährwerte ordentlich verampelt, neben einem Produktfoto und weiteren nützlichen Informationen.
Anfragen von Allergikern
"Ich benutze die App seit vier Monaten, anfangs mehr aus Spielerei", erzählt Jürgen Siebert, Marketingleiter eines Schriften-Versandhandels aus Berlin. Die aktuellen Informationen über kontaminierte Eier betrachtet er als "tollen Service" und nutzt ihn. Auch für Georg Lange, Berufskraftfahrer aus Berlin und Barcoo-Nutzer, sind Ampel-Kennzeichnungen und Gift-Infos interessant. Sein Verhalten würden sie jedoch nicht entscheidend beeinflussen: "Dass Schokolade viel Zucker und Käse viel Fett enthält, das weiß ich auch so." Doch für Eltern von Kleinkindern, für Diabetiker oder diätbewusste Verbraucher sei es absolut nützlich, sagt er. Auch gehen immer häufiger Anfragen von Verbrauchern ein, die Informationen für Allergiker wünschen, berichtet Barcoo-Entwickler Thym. "Das wollen wir auch, doch dafür müssen wir die Hersteller gewinnen, weil nur dort die Inhaltsstoffe genau bekannt sind".
Um die Anwendung kostenlos anbieten zu können, gehören zum Geschäftsmodell von Barcoo auch Werbe- und Verkaufs-Einnahmen für bezahlte Marketing-Kooperationen. Etwa bei der Cola: Bei jedem Scan einer Cola-Flasche schaltet sich der Getränke-Hersteller mit Spielen oder Lockangeboten ein. "Die Firmen wissen genau, wie ihre Produkte etwa beim Zuckergehalt abschneiden", sagt Thym. Doch es gehe ihnen um Image und den Dialog mit ihren Kunden, deshalb nähmen sie den kritischen Ansatz notgedrungen hin. Aber auch Drohgebärden seitens der Lebensmittelindustrie hat es schon gegeben.
"Bei meinem Lieblingsmüsli habe ich via Barcoo eine Info von Greenpeace gefunden, dass es ein veganes Produkt ist, und der Hersteller auf gentechnisch manipulierte Zutaten verzichtet. Seitdem esse ich es noch lieber", erzählt Nutzer Georg Lange. Er meint die stark nachgefragten "Öko-Informationen", die unter anderem Organisationen wie Greenpeace, das Öko-Institut, der WWF oder WeGreen bereitstellen. Mit WeGreen zusammen hat Barcoo auch eine "Nachhaltigkeitsampel" entwickelt, mit der die Hersteller-Bewertungen farblich kodiert sind. Auch das kommt gut an. Deshalb hat sein checkitmobile-Team den Aufbau und die Funktionsweisen ihrer Anwendung jetzt überarbeitet. In der neuen Version nehmen Lebensmittel- und Nachhaltigkeits-Ampel einen weit größeren Raum ein. Die bislang prominent platzierte Möglichkeit zum Preisvergleich wird zu einer Randfunktion degradiert. Die Schnäppchen-Jagd ist den Konsumenten nämlich weit weniger wichtig als angenommen. Beliebter ist der direkte Austausch in Kommentaren und Diskussionen.
Direkter Einfluss
Und auch so kann diese Funktion nachhaltig wirken: Stellen sich durch die "Nachhaltigkeitsampel" die Produktionsbedingungen für die Beschäftigten als unsozial oder für die Umwelt als schlecht heraus, lässt sich direkt positiver Druck ausüben. Zum Beispiel mit Mail-Anfragen, die man aus Barcoo heraus direkt an den Hersteller richten kann. "Wir sind sehr gespannt, wie das von Verbraucherschutz-Ministerin Ilse Aigner angekündigte Verbraucherportal aussehen wird", sagt Benjamin Thym. "Unserer Meinung nach hat die Politik die Dimensionen dessen, was wir und andere hier aufbauen, noch gar nicht richtig erkannt. Da wird in den Arbeitskreisen viel beraten und geredet und beschlossen - doch vermutlich bieten die Portale auch in einem Jahr nicht einmal zehn Prozent dessen, was wir jetzt schon an Informationen vermitteln können."