Ausgabe 04/2011
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Von Mein Bericht An Die Welt |Unretuschierte Narben
Jan Karski: Mein Bericht an die Welt | Dieser erschütternde Bericht vom polnischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation erschien schon 1944 in den USA. Aber erst jetzt liegt die deutsche Übersetzung vor. Wer das Umschlagfoto des Autors Jan Karski betrachtet, das ihn auch auf der Erstausgabe zeigte, fragt sich, warum es eine so beunruhigende Autorität hat. Die Erklärung: Es sind die unretuschierten Narben der Gestapo-Folter. Nach dem Überfall Hitlers auf Polen 1939 war der Soldat Karski zunächst in russische und deutsche Gefangenschaft geraten. Nach seiner Flucht wurde er zum Untergrundkämpfer. Den geheimen Staat, der im Untertitel des Buches genannt wird, gab es wirklich als komplette Struktur. Ein Beispiel: Die Deutschen hatten auch das Schulwesen zerschlagen, und in einer rührenden Szene sind wir Zeugen bei einer heimlichen Abiturprüfung. Das Verstörende und Beschämende für deutsche Leser sind gerade auch die Alltagsschilderungen aus dem besetzten Polen. Der Patriot Karski, der selbst schon Zeuge und Opfer von so viel Grausamkeit gewesen war, hatte aber noch eine besondere Mission vor sich, die ihm die Leiden Polens in einem andern Licht erscheinen ließen: Als ein Volk, das unterdrückt, ausgeplündert, ausgehungert und entrechtet war, aber nicht vernichtet. Von jüdischen Partisanen ließ er sich in das Warschauer Getto und in ein Vernichtungslager einschleusen. Diese beiden Kapitel sind so meisterhaft geschrieben, dass sie uns so daran teilhaben lassen, als hätten wir wie Karski gesehen, was jede Vorstellung übersteigt. Karski kann nach England entkommen und von dort in die USA, um den Alliierten schon 1942/43 von der bevorstehenden Auslöschung der europäischen Juden zu berichten. Leider ohne Erfolg. – Der 2000 verstorbene Karski, der bis zur Ausstrahlung von Claude Lanzmanns Film Shoah fast vergessen war, war durch die Kürzung seines Interview-Beitrags in dem Film betroffen, denn es fehlte ausgerechnet, „was ich allein berichten konnte“. Hier haben wir nun – ungekürzt, mit einem Vorwort, das unbedingt zur Orientierung notwendig ist, ebenso wie die vielen Fußnoten – seinen Bericht aus erster Hand. Bettina KlixKUNSTMANN VERLAG 2011, A. D. ENGLISCHEN ORIGINALTEXT UND DER FRANZÖSISCHE NEUAUSGABE ÜBERSETZT VON FRANKA REINHART UND URSEL SCHÄFER, 619 S., 28 €
Siobhan Dowd: Auf der anderen Seite des Meeres | Holly ist ein seltsames Mädchen. Das 15-jährige Heimkind läuft einer fixen Idee hinterher, buchstäblich, denn sie will zu ihrer Mutter nach Irland, wo sie angeblich lang erwartet wird. Dabei gibt es eine neue Pflegefamilie für sie, die sich in rührender Weise um das aggressive Mädchen bemüht. Holly greift sich dennoch eine blonde Perücke aus dem Schrank der Pflegemutter und haut ab. Nach Irland, und sobald sie die falschen Haare aufsetzt, dazu die Stöckelschuhe und den Minirock anzieht, fühlt sie sich schön und selbstbewusst. Sie nennt sich fortan Solace, und immer, wenn ihr bang wird ums Gemüt, flüchtet sie sich in ihre neue Identität, die im Verlauf ihrer Reise immer destruktiver wird. Bis sie den Hafen nach Irland erreicht, gerät sie in allerlei gefährliche, aber auch liebenswerte Situationen. Nur vertrauen, das kann sie niemandem. Erst in allerletzter Sekunde kann der eigene Lebenswille sie von den Qualen ihrer posttraumatischen Störung befreien, unter denen sie ganz eindeutig leidet. Ein letzter aufwühlender Roman der früh verstorbenen Autorin, die so brilliant über die inneren Torturen der Pubertät schrieb. jm
CARLSEN VERLAG, Ü: SALAH NAOURA, 320 S., AB 14, 14,90 €