Ausgabe 05/2011
Proteste im Tränengas
Von Andreas Knobloch
SME-Mitglieder demonstrieren in Mexiko-Stadt, Oktober 2010
Auf dem Papier haben die mexikanischen Arbeiter eines der besten Arbeitsgesetze der Welt. Die Verfassung von 1917 gibt den Arbeitern das Recht, Gewerkschaften zu bilden und schützt Arbeiterinteressen in vielen Bereichen. Gleichzeitig aber ist die Geschichte der mexikanischen Gewerkschaften davon geprägt, dass sie lange Zeit eng mit der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die Mexiko 70 Jahre lang regierte, verbunden war. Nach dem Regierungswechsel vor elf Jahren begannen sich einige Gewerkschaften zu demokratisieren. Die Gewerkschaft der mexikanischen Elektrizitätsarbeiter (SME) spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle, oft als Sprachrohr der unabhängigen Gewerkschaften, die geschätzte 1,5 Millionen Mitglieder haben. Ihre Rechte müssen sie sich heute erkämpfen.
Steine und Festnahmen
Bei einer Demonstration der SME ist es am 11. April in Mexiko-Stadt zu schweren Ausschreitungen gekommen. Mehrere Autos wurden in Brand gesteckt, es gab mindestens 14 Verletze, darunter zwei Journalisten. Zu den Zusammenstößen kam es, als Demonstranten in den ehemaligen Sitz des vor anderthalb Jahren aufgelösten staatlichen Stromunternehmens Luz y Fuerza del Centro (LyFC) eindringen wollten. Mit Steinen und Knüppeln gingen die Arbeiter auf die vor dem Gebäude aufgestellten Polizisten los. Die setzten Tränengas ein.
Die Regierung Felipe Calderón erklärte, nach den "vandalischen Gewaltakten" keine weiteren Gespräche mit der Gewerkschaft SME führen zu wollen. Elf frühere LyFC-Arbeiter sind bei den Potesten festgenommen worden und müssen sich wegen mehrerer "Akte gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung", wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und "verursachter Schäden" vor Gericht verantworten. Ihnen drohen zwischen sechs Monaten und elf Jahren Gefängnis. Der Generalsekretär der SME, Martín Esparza Flores, sprach seine Arbeiter vom Vorwurf der Gewalt frei und machte "eingeschleuste Männer" für die Aggression verantwortlich. Auf diese Weise solle die Gewerkschaft kriminalisiert werden. Esparza kündigte die Fortsetzung der Proteste an, "bis die elf politischen Gefangenen auf freien Fuß gesetzt und die Forderungen der Arbeiter erfüllt sind". Sie verlangen von der Regierung die Gründung eines neuen staatlichen Stromunternehmens, das die ehemaligen LyFC-Arbeiter einstellt.
Der Regierungschef von Mexiko-Stadt, Marcelo Ebrard, verurteilte die Gewalt und forderte eine Lösung des Konflikts, für den er Arbeitsminister Javier Lozano verantwortlich macht. "Es muss ein Ausweg gefunden werden. Es gibt 16.000 Arbeiter ohne Job", sagte Ebrard.
Das staatliche Stromunternehmen Luz y Fuerza, das im Zentrum des Landes operierte, war im Oktober 2009 von Präsident Felipe Calderón per Dekret aufgelöst worden. Die Regierung Calderón verfolgte seit Beginn ihrer Amtszeit eine gewerkschaftsfeindliche Privatisierungspolitik. Besonders die streitbare SME stand einer weiteren Öffnung des Strommarktes im Wege. Als es bei der Gewerkschaft zu internen Konflikten über die Führung kam, nutzte die Regierung das aus und trieb die Liquidierung des Unternehmens LyFC voran. Die Auflösung führte zur Entlassung von 44.300 Arbeitern. Die Regierung begründete die Schließung mit der Ineffizienz und den Verlusten des Konzerns. Dass die Verluste auch mit ausgebliebenen Zahlungen von großen Kunden wie Industriebetrieben, Banken, öffentlichen Einrichtungen und Universitäten zusammenhingen, blieb unerwähnt. Ein Teil der entlassenen Arbeiter wurde in die Bundeskommission für Elektrizität (CFE) eingegliedert, die die Aufgaben der LyFC übernahm. Andere wurden ausgezahlt, doch 16.000 Arbeiter lehnten die angebotenen Abfindungen ab. Sie fordern weiterhin die Wiederherstellung ihrer Arbeitsplätze.
Dialog abgelehnt
Die gewalttätigen Proteste haben die SME allerdings in ihrem Kampf isoliert. Die Regierung von Mexiko-Stadt ist auf Distanz gegangen, weder im Justizapparat noch im Arbeitsministerium gibt es Vermittler, die Regierung hat einen weiteren Dialog abgelehnt. Während die SME bei ihren Protesten also recht allein dasteht, hat sich gegen die geplante Arbeitsreform der Parteien PRI und PAN eine breite Allianz unabhängiger Gewerkschaften gebildet. Die unternehmerfreundliche Gesetzesvorlage für die Reform sieht unter anderem Ausgliederung, Zeitarbeit, schwächeren Kündigungsschutz und individuelle statt kollektiver Tarifverträge vor. Nach den Protesten der Gewerkschaften und wegen interner Unstimmigkeiten wurde die Entscheidung über die Reform vorerst auf den Herbst verschoben.
Früher verteilte der Staat in solchen Fällen Macht und Geld, die Gewerkschaften nickten Reformen und Gesetze ab. Seit den 1980er Jahren verschlechterten sich im Rahmen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik jedoch auch für die Arbeitnehmer/innen die rechtlichen Bedingungen. Unabhängige Gewerkschaften waren die Ausnahme. Und noch immer gehören die meisten mexikanischen Gewerkschaftsmitglieder (zehn Millionen) einer "offiziellen" oder regierungsfreundlichen Gewerkschaft an.