Gemüse aus der Großstadt

Christa Müller: Urban Gardening – Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt | Dieses Buch beschreibt nicht nur das Sprießen neuer Gartenformen in Städten – es ist selbst eine wuchernde Vielfalt von Gedanken, Analysen und Aspekten zum Thema, die immer wieder überrascht. Dabei liest sich das Inhaltsverzeichnis der von Christa Müller herausgegebenen Aufsatzsammlung zunächst recht spröde, und man fragt sich, ob man hier nicht mit einer intellektuellen Monokultur konfrontiert wird. Doch fast alle 22 Aufsätze haben sich am Ende gelohnt.

Nachdem Grün in Städten lange Zeit vorwiegend als ästhetisch betrachtet wurde und Kleingärten als individueller Rückzugsort galten, breiten sich nun gemeinschaftliche Gärten in vielen Metropolen zwischen Buenos Aires und Berlin aus. Dabei geht es ebenso um eine kulturelle Erdung durch Entschleunigung wie um den Anbau von Obst und Gemüse zur Selbstversorgung. Oft sind es offene Orte, die sonst nie stattfindende Begegnungen ermöglichen und wo gemeinsam gehegt und geteilt wird.

Heute kehrt ein Teil der Lebensmittelproduktion dorthin zurück, wo die meisten Menschen wohnen. Das ist nicht nur klimapolitisch erfreulich. Es kann auch als Gegentrend zu einem globalen Neoliberalismus gelesen werden, der immer dort produziert, wo etwas gerade am billigsten ist. Die Kehrseite dieses anonymen Gemüsehandels lässt sich gerade wieder am EHEC-Skandal studieren: Menschen sterben – und die Behörden finden trotz intensiver Suche lange Zeit die Ursache der Seuche nicht, weil die Lieferbeziehungen quer über die Kontinente verlaufen.

Dabei ist das Potenzial einer stärkeren Regionalversorgung auch in Großstädten erheblich. Katrin Bohn und André Viljoen glauben, dass in London 30 Prozent des Gemüse- und Obstbedarfs im ungenutzten öffentlichen Stadtraum erzeugt werden könnte, ohne dass deshalb Parks in Kohlfelder verwandelt werden müssten.

Spannend sind auch die beiden Beispiele aus Ostdeutschland, wo es aufgrund des Bevölkerungsschwunds riesige Brachflächen gibt, für deren Pflege die Kommunen kein Geld haben. In Leipzig haben Anwohner einen Nutzgarten auf einem Schuttgelände errichtet. In Dessau fördert die Stadt die „In-Kulturnahme“ von 20 x 20 Meter großen Flächen durch Bürger oder Initiativen, und so sind nicht nur Apotheker- und Sinnesgärten entstanden, sondern auch eine BMX-Strecke oder Versuchsfelder für nachwachsende Rohstoffe. Annette JensenSACHBUCH, OEKOM VERLAG, 352 SEITEN, 19,95 EURO


Thomas Harlan: Veit | Die Liebe zur Wahrheit und die Liebe zu einem Vater, der sich seiner Schuld nicht stellen wollte, bestimmen Veit, das letzte Buch des 2010 verstorbenen Thomas Harlan. Der Autor und Regisseur widmete sein ganzes Leben der Aufdeckung nationalsozialistischer Verbrechen und der Benennung von Kontinuität in der Bundesrepublik. Drückend fühlte er die Schuld des Vaters, die dieser nicht anerkennen wollte. Veit Harlans antisemitischer Film Jud Süß war für Thomas ein „Mordinstrument“, weil er den Mördern als Rechtfertigung und Inspiration gedient hatte. Als der Sohn nach Polen ging, um in Archiven deutschen Kriegsverbrechern nachzuspüren, musste er hören, er versuche nur statt des eigenen Vaters „andere Väter umzubringen“. Doch 1964 wurde der verstoßene, enterbte Sohn ans Sterbebett seines Vaters gerufen. Von diesen Tagen und dem Ringen miteinander erzählt das Buch auf atemberaubende Weise. Am Ende wünscht der Sohn, die Schuld des Vaters auf sich nehmen zu können, in Liebe. Klix

ROWOHLT VERLAG, REINBEK, 156 SEITEN, 17,95 €


Dominique Manotti: Roter Glamour | Die französische Wirtschaftshistorikerin und ehemalige Gewerkschafterin Manotti hat sich auch mit ihrem zweiten auf deutsch übersetzten Krimi dem Schwarzen Roman verschrieben. Mit harten Schnitten und reduzierter Sprache treibt sie uns durch eine komplexe, 1985 spielende Handlung, in deren Mittelpunkt illegale Waffenlieferungen an den Iran stehen. Präsidentenberater Bornand, Initiator des Geschäfts, hofft auf die Befreiung französischer Geiseln, ein dadurch günstigeres Wahlergebnis für Mitterrand sowie einen üppigen Nebenverdienst. Das moralfrei agierende, meist männliche Personal bringt sich gegenseitig in Schwierigkeiten, dann nach und nach um. Kein leichter Job für Noria Ghozali, die ermittelnde Polizistin maghrebinischer Herkunft. Und auch keine leichte Lektüre. Atemlos jagt man von Satz zu Satz. Plötzlich: Ende. Dann: kurze Erholung. Im Herbst erscheint Ghozalis zweiter Fall. hik

ARGUMENT 2011, 247 SEITEN, 12,90 €