Wir sind da, wir sind viele - weil ihr unsere Löhne klaut

Immer mehr Beschäftigte erklären sich branchenübergreifend mit anderen solidarisch, wenn die für ihre Rechte streiken. Weil nur viele viel erreichen können

von Petra Welzel

Mitten in der Nacht um 3 Uhr auf einem Betriebshof des öffentlichen Nahverkehrs zu erscheinen, obwohl es der Dienstplan nicht vorsieht, das muss schon einen unaufschiebbaren Grund haben. In Berlin häufen sich die Gründe gerade, warum Beschäftigte der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in aller Herrgottsfrühe an ihren Arbeitsplatz gehen. Ende September bestückten sie S- und U-Bahnen, Trams und Busse mit Flyern, gerichtet an die Berliner/innen und die Gäste in der Stadt. Auf denen erklärten sie ihre Solidarität mit den streikenden Beschäftigten dreier Altenpflegeheime und dem nichtärztlichen Personal der Berliner Charité.

Zusammen mit Kollegen der Berliner Stadtreinigung (BSR) standen die BVGer zweieinhalb Stunden später auch an der Warschauer Brücke, um an einem der meist frequentierten Umsteigebahnhöfe der Stadt den frühmorgendlichen Pendlern ihre Soli-Flyer direkt in die Hand zu geben. "Ein Fahrgast hat gleich einen ganzen Stapel mitgenommen, um ihn zu verteilen", berichtet Rainer Döring, Vorsitzender im Fachbereich Verkehr bei ver.di Berlin/Brandenburg. Er selbst gehörte zur frühen Truppe und konnte nach getaner Arbeit zufrieden feststellen: "Dieses Mal gab es niemanden, der sagte, wir sollten uns erstmal um die Regierung, ums große Ganze kümmern." Offenbar merken die Menschen, dass alles bei den eigenen Bedingungen beginnt.

Her mit dem Tarifvertrag

Und dabei wollen die Altenpfleger/innen der drei Alpenland-Pflegeheime im Ostteil der Stadt und die nichtärztlichen Beschäftigten des Charité Facility Managements (CFM) nur das, was auch die anderen Kolleg/innen bei Alpenland und der Charité haben: einen Tarifvertrag und gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Die Alpenländler verhandeln bereits seit sechs Jahren über ihre Gleichstellung mit den Beschäftigten der anderen Häuser im Westen Berlins. Die so oft und gern beschworene Tarifautonomie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Deutschland - sie ist leider oft genug nicht einmal das Papier wert, auf dem sie gelobt wird. Seit 20 Jahren fällt jedes Jahr ein Prozent der Beschäftigten aus der Tarifbindung. Tendenz: anhaltend.

Viele Menschen fragen sich, wann auch wir griechische Verhältnisse haben werden. 80 Prozent der Deutschen sorgen sich ernsthaft um ihr Hab und Gut. "Wir sind die 99 Prozent" nennt sich die Bewegung, die derzeit den Protest gegen die Wall Street und gierige Banker in den USA und mittlerweile auch weltweit antreibt. Ein Prozent der Amerikaner verteilt das Vermögen des Landes auf sich, die anderen 99 Prozent haben seit 2008 vieles oder alles verloren. In Griechenland kann sich kaum noch jemand den Arztbesuch leisten. In naher Zukunft sollen weitere 30.000 Staatsbedienstete in die Arbeitslosigkeit geschickt werden.

So weit sind wir noch nicht. Doch die Ungerechtigkeiten hierzulande werden nicht dadurch geschmälert, dass sie andernorts noch viel größer sind. In Deutschland wurden bereits in den vergangenen zehn Jahren zehntausende Arbeitsplätze abgebaut, im öffentlichen Dienst und anderswo. Der Energieriese E.ON will schon bald allein in Deutschland 6000 Stellen streichen. Daher reicht es mittlerweile sehr vielen. Beschäftigte der Volkswagen Nutzfahrzeuge Hannover, sozusagen Beschäftigte erster Klasse, seit jeher mit guten Tarifverträgen ausgestattet, erklärten sich Ende September mit den Beschäftigten in den Diakonischen Einrichtungen solidarisch, für die ver.di seit langem die gleichen Arbeitnehmerrechte fordert wie für alle Beschäftigten, vor allem das Streikrecht.

Mit geballter Kraft

ver.di ist vor zehn Jahren vor allem auch deshalb gegründet worden, um Menschen aus über 1000 Berufen miteinander zu vernetzen. Nicht mehr gegeneinander konkurrieren, sondern gemeinsam demonstrieren, dass wir viele sind und viele mehr erreichen, das war das Ziel. Die ver.dianer/innen haben das heute verinnerlicht, auch wenn sie sich dafür nächtens aus dem Bett quälen müssen.

Wenn der Protest in aller Öffentlichkeit ein Gradmesser für den zunehmenden Leidensdruck von Gesellschaften ist, dann mag er hierzulande noch nicht groß sein. Aber nicht nur Gewerkschafter/innen, immer mehr Menschen in diesem Land ist bewusst, dass der Karren gegen die Wand zu rauschen droht, wenn man sich ihm nicht geballt entgegenstellt. Immer mehr schließen sich zusammen, in vielen Zusammenhängen, um sich für ihre Rechte stark zu machen. Sei es, um einen Bahnhof, den niemand braucht, zu verhindern. Sei es, um die nächste Atomkatastrophe auszuschließen. Oder sei es eben, um Tarifverträge durchzusetzen. Der Widerstand wächst an den Wurzeln. Und das ist auch gut so.

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