Ausgabe 12/2011
Film
Von Kirsten Liese |Abendland | Europa bei Nacht. Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter stellt die Kultur des viel gerühmten Abendlands auf den Prüfstand. Seine Eindrücke ernüchtern: Die pulsierende Dienstleistungsgesellschaft ist zu einem Bollwerk der Sicherheit geworden, technologisch hochgerüstet und mit einem gr0ßen Stab an Überwachungskräften. Mit der Beteuerung, man werde sie „in Würde“ und nicht wie „eine Schachtel Tomaten“ in ihre Heimat zurückbringen, werden Asylanten abgeschoben. Einen erschreckend weltfernen Kontrast dazu bildet eine salbungsvolle Ansprache des Papstes. Und auch viele der übrigen Szenen in Pflegestationen, TV-Studios, Polizeischulen oder Krematorien schlagen auf den Magen. Ist dieses Europa, das sich an allen Ecken und Enden so abgestumpft zeigt, noch Gipfelpunkt der menschlichen Zivilisation? Die auch visuell bestechende Doku ist mehr als eine assoziationsreiche Collage nächtlicher Impressionen, vielmehr ein eindrucksvolles Mahnmal gegen Ausgrenzung. Kirsten Liese
A 2011. REGIE: NIKOLAUS GEYRHALTER, 90 MIN., KINOSTART 22.12.2011
The Descendants-Familie und andere Angelegenheiten | Alltag in Honolulu. Wellen branden an die Strände, der Hibiskus blüht. Da fällt die Ehefrau ins Koma, woraufhin die Töchter anstrengende Formen von Verzweiflung zeigen und der Schwiegervater in Aggressionen schwelgt. Und die Vettern erwarten, dass die Familienimmobilien auf der Nachbarinsel Kauai an Spekulanten verkauft werden. Anwalt, Gatte und Erbe Matt, eigentlich der eher entspannte Typ in Blumenhemden über Flip Flops, ist von all dem überfordert. Als sich seine dahinsterbende Elizabeth auch noch als Ehebrecherin entpuppt, geht Matt mit seinen Kindern auf die Suche nach ihrem Lover. Um dem Liebhaber einen Abschied an Elizabeths Krankenhausbett zu gewähren (aus Großherzigkeit). Oder um dessen eigene Frau zu küssen (aus Rache). Erinnerungen im Strandhaus seiner Vorfahren überfallen Matt ebenso wie seine neue Verantwortung als allein erziehender Vater: Der 50-Jährige wird plötzlich erwachsen. Eine Glanzleistung von George Clooney, der hier selbst zum ersten Mal eine Rolle fortgeschrittenen Alters übernommen hat. In weiteren Hauptrollen überzeugen Oahu, Kauai und Big Island Hawai‘i. Jutta Vahrson
USA 2011. R: ALEXANDER PAYNE. D: GEORGE CLOONEY, JUDY GREER, 110 MIN., KINOSTART: 26. 1. 2012
Und dann der Regen | Regisseurin Bollaín hat einen spannenden Spielfilm über den Dreh eines Spielfilms geschaffen. In dem ein Team aus Spanien nach Bolivien reist, um dort mit einheimischen Laiendarstellern die fiesesten Episoden von Kolumbus „Eroberung“ bloßzustellen. Wobei sich die Konflikte beider Zeitebenen zu mischen beginnen, wenn die frechen Filmleute am Cateringbüffet von schlecht bezahlten Indios bedient werden. Der Schnöselproduzent unterschätzt den indigenen Star des Films völlig, bis dieser gegen die katastrophale Wasserverteuerung der Stadtregierung angeht, wobei er einen Bürgerkrieg entfacht, der auf den „Wasserkrieg“ verweist, 2000 in Cochabamba. Das Filmteam steckt nun im Zwiespalt zwischen dem sozialkritischen Historienprojekt und den Brutalitäten der Gegenwart. Wer harte Männer mag, die schließlich aus Freundschaft weinen, über die Kluft von 500 Jahren Ungerechtigkeit hinweg, möge sich bitte ein Ticket kaufen. Jutta Vahrson
ES/FR/MX 2010. R: ICÍAR BOLLAÍN. D: LUIS TOSAR, J.-C. ADUVIRI, D: 103 MIN., KINOSTART: 29. 12. 2011