Neonazis haben über Jahre hinweg unbehelligt gemordet

Albrecht Müller ist Herausgeber der www. NachDenkSeiten.de und ver.di-Mitglied

Stellen Sie sich vor, es würden nacheinander neun Bankdirektoren ermordet, und alle mit der gleichen Waffe. Spätestens beim dritten Mord würden die Kriminalisten vermuten, dass es Zusammenhänge gibt, und sie würden fieberhaft suchen, welche diese sind. Sie würden eine Sonderkommission "Direktorenmorde" gründen und Plakate anschlagen, eine hohe Belohnung aussetzen, die vom Bankenverband noch erhöht würde. Jetzt stellen Sie sich vor, nacheinander würden verstreut übers Land neun Betriebsräte ermordet, immer mit der gleichen Waffe. Vielleicht hätten die Sicherheitsbehörden beim fünften toten Betriebsrat begonnen zu erwägen, es könne Zusammenhänge geben. Aber gemach - was sind schon Betriebsräte wert?

Jetzt brauchen Sie sich nichts mehr vorzustellen; Sie brauchen nur wahrzunehmen, was geschehen ist: Acht türkische Kleingewerbetreibende, ein griechischer Kollege und eine Polizistin wurden innerhalb von sieben Jahren mit der gleichen Waffe ermordet. Die deutschen Sicherheitsbehörden haben nichts gemerkt. "Nicht nur hat unser Heer von Staatsanwälten, Polizisten und Geheimdienstlern die längste rechtsradikale Mordserie ... nicht stoppen können; sie haben sie nicht einmal als solche erkannt", schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Bundesanwaltschaft ließ wissen, sie habe bis zur Aufdeckung keine rechtsterroristischen Strukturen erkennen können.

Das ist nicht zu fassen. 182 Menschen sind nach Angaben der Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich der Aufklärung rechter Gewalt widmet, in Deutschland seit 1990 aus rechtsextremen und rassistischen Motiven heraus umgebracht worden. Wie ist es möglich, dass Rechtsradikale über einen langen Zeitraum hinweg von den Sicherheitsbehörden unentdeckt und unbehelligt derart schwere Verbrechen begehen können? Die Sicherheitsbehörden tun so, als seien die zehn Morde und die blutige Jagdstrecke der Rechtsradikalen mit insgesamt 182 Toten ein Rätsel. Wenn man es hätte wissen wollen, hätte man es wissen können, meint auch dazu die FAZ. Auch ich glaube den Behörden nichts mehr. Wenn sich jemand so lange einer intensiven Fahndung entziehen kann, dann haben staatliche Stellen ihre Finger im Spiel. Diese Einschätzung eines CIA-Agenten teile ich.

Die Grenzen zwischen dem rechtskonservativen und dem rechtsradikalen Milieu sind fließend. Da schauen manche Staatsanwälte halt mal nicht genau hin. So etwas wie klammheimliche Freude gibt es auch in diesen Milieus. Konservative und Rechtskonservative haben kräftig mitgewirkt bei der Hetze gegen Ausländer, gegen Arbeitslose, gegen "Sozialschmarotzer", gegen linke und nicht angepasste junge Leute und etwas verdeckter auch gegen Gewerkschafter. Volksverhetzung ist das geistige Vorfeld rechter Gewalt. Rechte Gewalt wendet sich nicht nur gegen Ausländer. In Dortmund wurde 2009 die DGB-Demonstration zum 1. Mai überfallen. Büros der Sozialdemokraten und der Linken wurden von rechten Schlägern angegriffen. Polizei und Justiz sind oft erstaunlich zögerlich in der Verfolgung dieser Straftaten. In Dresden werden Demonstranten, die sich gegen die Auftritte der Nazis wenden, von der Polizei verfolgt. "Wer sich in München gegen Rechtsextremismus engagiert, gerät schnell in die Fänge von Polizei und Justiz", schreibt die Süddeutsche Zeitung am 22. November und dokumentiert eine Auswahl dieser staatlichen Übergriffe.

Zum Ausblick möchte ich Sie auf eine wahrscheinliche Entwicklung aufmerksam machen, die Gewerkschafter beschäftigen müsste: Es ist unbestritten, dass unsere Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet. Der Unterschied zwischen Arm und Reich wird immer größer. Die Gruppe der Superreichen, die sehr viel zu verlieren haben, wächst. Ihr Einfluss auf Politik und Medien wächst. Das können wir gerade jeden Tag beobachten. Die Politik ist in den Fängen dieser Superreichen. Stellen Sie sich vor, Sie gehörten zu dieser Gruppe und wären ein/e Zyniker/in. Dann würden Sie darüber nachdenken, wie Sie den angehäuften Reichtum sichern können. Und sie würden von der Politik und den Sicherheitsbehörden fordern, dass sie überlegen und planen, wie sie mit möglichen Protesten der verarmten und überschuldeten Massen, mit "frechen Gewerkschaftern" und der aufbegehrenden jungen Generation ohne berufliche Perspektive fertig werden. Die Vorbereitung darauf darf man sich auf keinen Fall durch allzu viel Beschäftigung mit rechter Gewalt stören lassen. Außerdem kann man im Notfall die Rechte gebrauchen. Es wäre gut, wenn diese Sorge in das Reich der Fan-tasie und des Fantastischen verwiesen werden könnte. Aber sie scheint mir zumindest so begründet, dass man darüber reden muss, um sich rechtzeitig wehren zu können.

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Volksverhetzung ist das geistige Vorfeld rechter Gewalt.