Tausende Menschen wurden seit 1990 in Deutschland Opfer rechtsextremer Gewalt, mindestens 150 starben. Die Untersuchungsbehörden behaupten oft, ein politischer Hintergrund der Tat sei ausgeschlossen

Auf diesem Balkon trainiert ein Migrant in seiner Freizeit, um sich im Ernstfall wehren zu können

von Heike Kleffner

Die Familie von Kamal Kilade wird von der Opferberatung der RAA Leipzig unterstützt, der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie. "Er musste sterben, weil seine Hautfarbe einigen Menschen nicht gefiel", schrieben die Angehörigen in der Todesanzeige für den jungen Iraker. Der 19-Jährige starb am 24. Oktober 2010 in Leipzig. Die Todesursache: ein Messerstich in den Bauch. Der Täter: Marcus E., 32 Jahre alt, mehrfach vorbestrafter Neonazi mit tätowiertem Hakenkreuz und Hitler-Porträt auf dem Oberarm, der gerade nach mehr als acht Jahren aus der Haft entlassen worden war. Mittäter war der ebenfalls einschlägig vorbestrafte 29-jährige Polizistensohn Daniel K..

Am Tag nach Kamal Kilades Tod veröffentlichten Zeitungen ein Foto, das zeigt, wie sich Daniel K. nach der Festnahme ein T-Shirt mit dem Schriftzug "Kick off Antifascism - Verpisst Euch, Antifaschisten" über den Kopf zieht. Dennoch verneinten Polizei und Staatsanwaltschaft öffentlich einen rassistischen Hintergrund für den Angriff.

Für die Familie war von Anfang an klar, dass Kamal "eben nicht Opfer eines gewöhnlichen Streits geworden ist, wie die Staatsanwaltschaft nicht müde wurde, öffentlich zu behaupten", sagt Diana Eichhorn. Die 45-Jährige berät in der Opferberatung der RAA Leipzig Betroffene rechtsextremer Gewalt, Angehörige und Zeugen. Ziel ist es, ihre Rechte durchzusetzen und sie dabei zu unterstützen, dass staatliche Behörden und Öffentlichkeit die Perspektive der Opfer zur Kenntnis nehmen.

Tödlicher Rassismus

Seit Oktober 2010 begleitet die Sozialpädagogin auch Kilades Angehörige auf der Suche nach Gerechtigkeit. "Am Anfang geht es oft darum, wie ein Strafverfahren gegen die Täter abläuft. Und dass die Angehörigen beziehungsweise die überlebenden Opfer Anspruch darauf haben, als Nebenkläger vertreten zu sein", sagt sie. Bis zum Prozess im Sommer 2011 kam die Mutter von Kamal Kilade jede Woche in das Büro von Diana Eichhorn und ihren zwei Kolleginnen. "Die Ermittlungsbehörden haben immer wieder suggeriert, Kamal habe eine Mitverantwortung für seinen Tod gehabt. Sie haben öffentlich über Verstrickungen ins Türstehermilieu spekuliert", sagt Eichhorn. Das habe die Familie sehr belastet. Auch in anderen Fällen erlebt sie, dass Opfer zu Tätern gemacht werden. Alle zwei bis drei Tage ereignet sich in Sachsen eine rechts und rassistisch motivierte Gewalttat, hat die Opferberatung Sachsen für 2010 registriert. Betroffen sind Jugendliche und junge Erwachsene, Flüchtlinge, Migranten, Obdachlose und Menschen, die sozial im Abseits stehen. Viele unterstützt die Opferberatung der RAA Sachsen in Dresden, Chemnitz und Leipzig.

"Kamal dachte, Deutschland sei seine Heimat", sagt sein Bruder Ali. Beide kamen als Kinder Anfang der 90er Jahre mit ihrer Mutter nach Leipzig. "Wie jede Mutter träumte ich davon, in einer sicheren Gesellschaft zu leben, in der jeder Mensch seine private und religiöse Freiheit genießt", sagt die koptische Christin. "Warum?" stand als einziges Wort auf dem T-Shirt mit einem Foto des Getöteten, das sein Stiefvater zum Prozess am Landgericht Leipzig trug.

Das Schwurgericht rekonstruierte die Tatumstände fast lückenlos: Nach einer Sauftour der "Kameraden" E. und K. am Abend des 24. Oktober 2010 ließen sie sich auf der Suche nach "Feinden wie Junkies oder Ausländern" zu einem Park fahren. Dort wurden die Neonazis auf Kamal aufmerksam. Nachdem Daniel K. mit Faustschlägen und Pfefferspray den elf Jahre Jüngeren attackiert hat, sticht Markus E. mit seinem Messer auf ihn ein. Der Neonazi habe "das vor ihm kniende Opfer nicht als Mensch gesehen, sondern als Ausländer", so der Richter. Den Ausländerhass, den Marcus E. auch mit der Tätowierung "Rassenhass" zur Schau stellt, wertete die Kammer als niedrigen Beweggrund und verurteilte ihn wegen Mordes zu 13 Jahren Haft mit Sicherungsverwahrung. Daniel K. kam mit einer dreijährigen Haftstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung davon.

Parallelwelten im Westen

"Im Fall Kamal Kilade sehen wir das Muster aus Entpolitisierung und Schuldumkehr, das auch die Ermittlungen nach den Morden des ‚Nationalsozialistischen Untergrunds' zum Scheitern gebracht hat", sagt der Politikwissenschaftler Roland Roth. Er fordert neben einer lückenlosen Aufklärung, ein zentrales Hemmnis für die Arbeit gegen Rechtsextremismus aus dem Weg zu schaffen: die "Extremismusklausel", mit der das Bundesfamilienministerium Projekte verpflichtet, ihre Partner auf Verfassungstreue zu überprüfen. Trotz der Kritik von Gewerkschaften, Wissenschaftlern und Opposition, trotz verfassungsrechtlicher Bedenken von wissenschaftlichem Dienst des Bundestages und sächsischem Landtag hält Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) an der Klausel fest.

Auch in Braunschweig musste Reinhard Koch, Geschäftsführer der "Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt" (ARUG), die Erklärung abgeben, um überhaupt staatliche Fördergelder zu erhalten. Koch befürchtet, dass in der aktuellen Debatte das "Problem neonazistischer Parallelwelten in den westlichen Bundesländern erneut unter den Teppich gekehrt wird". Die Arbeitsstelle unter dem Dach der Bildungsvereinigung "Arbeit und Leben in Niedersachsen" macht ein im Westen einmaliges Angebot: Die Servicestelle für Süd-Ost-Niedersachsen berät Kommunalpolitiker und Sozialarbeiter bei der Auseinandersetzung mit organisierten Neonazis und rechten Jugendcliquen. Ausstiegswillige und deren Angehörige, aber auch Ausbilder/innen können sich bei der ARUG an eine Hotline und Berater wenden, die den Ausstieg begleiten.

Oft werden Koch und seine Mitarbeiter um Rat gebeten, wenn Neonazis - wie derzeit in Bückeburg bei Hannover - alternative Jugendliche und deren Familien terrorisieren. "Leider ist der Bedarf an Unterstützung viel größer als unsere Möglichkeiten." Die ARUG muss jedes Jahr um Fördermittel kämpfen. "Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus ist eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe. Beratungsangebote müssen endlich dauerhaft in Ost und West gefördert werden", mahnt Roland Roth.

Kontakte

Unabhängige Beratungsstellen für Opfer rechter Angriffe in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen:

www.opferperspektive.de

www.mobile-opferberatung.de

Bildungseinrichtungen wie ARUG und das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum e.V.:

www.arug.de

www.apabiz.de

Mobile Beratungsteams:

www.mbr-berlin.de

www.kulturbuero-sachsen.de

www.mbt-hessen.de

www.mobim.info