Ausgabe 01/2012
Die liest sich wie geschmiert
Das ist schon Geschichte: Die Vorleser zu Zeiten der Audiokassetten. Vereinsgründer Hans-Dieter Seiler (links) und Hermann Dremel 1996 im kleinen Tonstudio des atz-Vereins. Wie die alten Bandmaschinen, die als Museumsstücke aufbewahrt werden, hat auch dieses Bild inzwischen dokumentarischen Wert
von Claudia von Zglinicki
"Eben hab ich die neue ver.di PUBLIK gehört", sagt Liane Hoffmann. Wie jetzt, gehört? Ja. Liane Hoffmann ist nicht blind, aber sie sieht schlecht, und ihre Sehkraft nimmt weiter ab. Dass sie nicht mehr wie früher lesen kann, trifft die ehemalige Buchhändlerin besonders. Auf der Suche nach Alternativen fand sie neben Hörbüchern und Hörfunk, "die mir die Zeitungen ja nicht ersetzen können", die CDs eines kleinen Vereins aus dem niedersächsischen Holzminden, der bundesweit dafür sorgt, dass blinde und sehbehinderte Menschen Aktuelles aus ihrer Region und wesentliche Teile anderer Zeitungen hören können.
Hier kann man 40 lokale Pressespiegel abonnieren, aber auch überregionale Blätter wie den Focus schon am Erscheinungstag der Printausgabe hören, ebenso Ausschnitte aus der taz und Artikel aus GEO. Es gibt ein Gesundheits-, ein Verbrauchermagazin und spezielle Informationen für Menschen, die sehbehindert sind, so ein Magazin für blinde Eltern. Hören statt sehen - der Bedarf ist groß, auch im Zeitalter von Notebooks und Downloads, denn vom atz-Verein bekommt man eine besondere Auswahl und hört lebendige Stimmen, nicht die synthetischen aus dem Computer.
Die Vorleserinnen
Christa Gerendt, Ursula Kellermann und Doris Kern sitzen in dem kleinen Studio des Vereins an den Mikrophonen. Gerendt bedient auch das Mischpult und hat den Computerbildschirm im Blick. Die drei Frauen kommen aus Holzminden und Höxter und "lesen" Texte aus den aktuellen Regionalzeitungen "ein", wie man hier sagt. Zu Hause haben sie zuvor die Zeitungen gesichtet und Artikel ausgewählt. Alle 14 Tage treffen sie sich, diskutieren die Auswahl und nehmen auf, was dann in den Räumen des atz-Vereins auf CDs gebrannt, kopiert und an die Abonnenten verschickt wird.
Den Bericht über einen jungen Mann aus der Gegend, der einen Drehtag am Set der Fernsehserie "Alarm für Cobra 11" verbringen und als Komparse seinen Star treffen konnte, schlägt Ursula Kellermann als Abschluss der Aufnahme vor. "Wieviel Zeit haben wir noch auf der CD? Ein Viertelstündchen?" Zustimmendes Nicken, sie liest den Text, konzentriert, ohne Versprecher, die Aufnahme ist perfekt. Nun noch die persönliche Verabschiedung und ein Gruß an die Hörer/innen, und das war's mal wieder.
Als es noch Tonbänder gab
Die drei Frauen sind durch die Arbeit mit Zeitungen und Mikro zu Freundinnen geworden. Sie sind froh, dass sie gerade dieses Ehrenamt gefunden haben. Doris Kern war durch eine Anzeige in der Zeitung aufmerksam geworden, wurde zum Vorsprechen eingeladen und gebeten, wiederzukommen. Ursula Kellermann hat "erstmal irgendeine Aufgabe gesucht", als sie in Rente ging. "Diese hier hat mich gelockt, weil Vorlesen immer schon meine Passion war und ich das gern noch ein bisschen professioneller weitermachen wollte."
Begonnen hat die Arbeit an den Hörzeitungen schon 1972, vor 40 Jahren. Vier Jahre später gründete sich der beharrliche kleine Verein. Der Gründer und langjährige Vorsitzende Hans-Dieter Seiler - selbst blind - hatte den Anstoß gegeben. "Wenn mir meine Frau regelmäßig aus der Zeitung vorliest, können wir doch gleich ein Tonbandgerät daneben stellen, dann können auch andere die Artikel hören", fand er. Eigentlich lag der Gedanke nahe. Ein Freund von Seiler regte an, die Jugendgruppe der evangelischen Gemeinde könnte das Aufnehmen besorgen. Ein zweites Tonbandgerät kam dazu, 13 Exemplare der Holzmindener Blindenzeitung entstanden, für die ersten 13 Hörerinnen und Hörer. Es wurden schnell mehr. Im Laufe der Jahre wechselte der Verein zu Kassetten, vier Bandmaschinen konnten angeschafft werden. Die Gründer hatten große Pläne: bundesweit arbeiten, flächendeckend. In ein paar Städten fingen sie an, mit neugierigen Ehrenamtlichen. Der Blindenverein in Hannover machte mit, auch Teams in Braunschweig und Göttingen fanden sich schnell. Heute stehen 40 Ortsnamen auf der Liste der lokalen Hörzeitungen.
Hermann Dremel, der heutige atz-Geschäftsführer, ist seit 1976 dabei. Damals war er der "unmotivierte Jurastudent, der nicht wusste, was er wollte". Er erfuhr, dass aus dem Lokalteil des Göttinger Tageblatts eine Hörzeitung gemacht werden sollte. Medien interessierten ihn - er war dabei. Eine kleine Truppe kam zusammen und produzierte das Göttingen-Journal, jede Woche. Manche Ausgaben sogar vor Publikum. Nach einem Praktikum beim Verein in Holzminden stellte Dremel fest: "Das Ding hat Potenzial! Ich brech' mein Studium ab, ich fang' hier an." "Für'n Appel und 'n Ei" war das damals, sagt er. Ein Zivi kopierte und verschickte die Kassetten, Dremel suchte neue Kontakte - Ehrenamtliche zum Auswählen und Aufsprechen der Artikel genauso wie Abonnenten. Er war begeistert: "Wir erfanden ein Medium neu. Es gab kaum Beispiele dafür."
Die Sprache fließt
Neu erfinden muss sich das Medium Hörzeitung seitdem immer wieder, nicht nur in technischer Hinsicht. Um sich nicht vom Internet verdrängen zu lassen. Was bisher gelingt, selbst wenn die ständig wachsende Masse an Medienangeboten auch blinde und sehschwache Menschen dazu zwingt, ihre Zeit genau einzuteilen und zu überlegen, wofür sie sie nutzen und was sie sich anhören wollen. 5000 Leute lassen sich zurzeit mit CDs aus Holzminden beliefern, mit insgesamt 8000 Abos. Die beiden Mitarbeiterinnen von Hermann Dremel und Melanie Manske, die "BuFDi" aus dem Bundesfreiwilligendienst, haben im vergangenen Jahr 120.000 CDs kopiert und verschickt.
Dremel zieht sich das Mikrophon heran und legt los. Für seine monatlich produzierte CD mit interessanten und hintergründigen Texten zur aktuellen Politik liest er eine Glosse aus der Wochenzeitung Das Parlament.
Man hört die Übung des Sprechers; die Pausen werden sicher gesetzt, Hervorhebungen souverän eingeteilt. Man spürt, dass er den witzigen Text genießt. Mit Wonne gibt er den Seitenhieb auf die Partei wieder, die gerade dabei ist, sich selbst abzuschaffen.
Ende der Aufnahme. Dremel grinst vergnügt. Als nächstes ist ver.di PUBLIK an der Reihe - für Mitglieder, die sich die CD anstelle der gedruckten Zeitung schicken lassen. "Die liest sich wie geschmiert", sagt er. "Die Sprache fließt. Und die Inhalte passen mir auch gut in den Kram."
atz-Hörmedien
Der Verein ist Mitglied im Deutschen Blinden-und Sehbehindertenverband.
Ein Zeitungsabo zum Hören kostet im Schnitt 48 Euro pro Jahr, sehbehinderte ver.di-Mitglieder erhalten die ver.di PUBLIK auf CD kostenlos. Die Hörzeitungen erscheinen als CD oder zum Download. Sie sind im MP3-Format aufgenommen, eine spezielle Struktur (DAISY-Format) erleichtert den Zugriff auf einzelne Inhalte. Bestellt werden können die Medien unter 05531 / 7153 oder atz@blindenzeitung.de