HANDELSBLATT, 21. FEBRUAR 2012

An Gewerkschaften werden bisweilen seltsame Maßstäbe angelegt. Große Branchengewerkschaften gelten als verbohrt und verantwortungslos, wenn sie Tarifforderungen von 6,5 Prozent beschließen. Kleinverbände wie die Gewerkschaft der Flugsicherung GdF, die mal eben mit einem ultimativen Streik 35 bis 65 Prozent durchsetzen wollen, werden dagegen ziemlich milde beurteilt. Die GdF, so lautet der Tenor, gehe zwar zurzeit etwas ruppig vor. Aber auch daran hätten ja ver.di & Co. eine Schuld, sie hätten sich zu wenig um die Wünsche der Vorfeldkontrolleure geschert und damit den Aufstieg der neuen Berufsgewerkschaft erst provoziert. (...) Die neuen Berufsgewerkschaften, die sich immer tiefer ins Tarifsystem hineinfressen, haben auch eine erstaunliche Anhängerschaft. Neben den direkten Profiteuren ihres Wirkens zählen dazu linke Systemkritiker, die jeden Streik als nötiges Zeichen gegen den Kapitalismus sehen. Auf der anderen Seite fliegen ihnen die Sympathien etlicher überzeugter Marktwirtschaftler zu, sie halten sie für Verbündete im ewigen Kampf gegen das sogenannte Tarifkartell. (...) Wer sich nun freut, wenn Berufsverbände für neue Konkurrenz sorgen, der sollte also einmal überlegen, worüber er sich da freut. Es entsteht Konkurrenz um den werbewirksamsten Streik. Der Wettbewerb um die Durchsetzung von Wettbewerbsbeschränkungen wird angeheizt.


Im Krankheitsfall Bsirske

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 6. MÄRZ 2012

Dies ist eine Fatwa. Wer im Zusammenhang mit der Präsidentenwahl in Russland noch einmal das Wort "Zar" benutzt, wird mit einem Jahr Zwangslektüre des Feuilletons der Zeit sowie aller Essays des Spiegels bestraft. Wer weiterhin gar die These verbreitet, "die" Russen wählten Putin, weil sie sich tief in ihrem Inneren einen Zaren wünschten, der muss jeden Donnerstag und Samstag mit Markus Söder, Gesine Lötzsch und Henryk Broder zum Essen gehen und dabei ausschließlich über Christian Wulff reden. Bis März 2013 (im Krankheitsfall sind die Ersatzleute Frank Bsirske und Kai Diekmann). Gewiss, das ist hart, und mancher mag diese Fatwa als ungerecht, ja unmenschlich empfinden. Aber hin und wieder muss man deutlich Position beziehen...


Die alten Argumente ziehen nicht mehr

DIE TAGESZEITUNG, 6. MÄRZ 2012

Die Warnstreiks, zu denen die Gewerkschaft Ver.di anlässlich der laufenden Tarifrunde [...] mobilisiert hat, treffen wie immer die BürgerInnen. Doch die moralische Rechtfertigung für den Arbeitskampf dürfte Ver.di in diesem Jahr leichter fallen. Und das nicht nur, weil die Konjunkturdaten noch relativ gut und die Erwerbslosenzahlen gesunken sind. In Tarifrunden geht es um Geld. 100 Euro mehr oder weniger, zum Beispiel, können in einer Einkommensklasse von 1 600 Euro netto sehr viel ausmachen. Die Beschäftigten brauchen das Geld nicht unbedingt, um sich teurere Klamotten oder ein besseres Auto zu leisten. Die Arbeitsentgelte sind vielmehr ein Politikum geworden, weil man sich mit diesem Selbstverdienten heute auch soziale Sicherheit kaufen muss: Private Rücklagen sind nötig, um später niedrige Renten auszugleichen [...]. Erst recht in einer Zeit, in der Frauen, im öffentlichen Dienst überproportional vertreten, eben nicht mehr automatisch auf den gutgestellten Ehemann setzen können. Das alte Argument der Arbeitgeber, wonach man im öffentlichen Dienst doch immerhin einen sicheren Job habe, zieht nicht mehr, zumal ErzieherInnen und KrankenpflegerInnen heute händeringend gesucht werden [...]. Eine Mindesterhöhung für die unteren Entgeltgruppen, auch jetzt wieder von Ver.di gefordert, sollte sich Gewerkschaftschef Frank Bsirske in den Verhandlungen nicht abkaufen lassen.