Ausgabe 02/2012
Zukunft sieht anders aus
Die Löhne befinden sich im freien Fall, die Arbeitslosigkeit steigt und steigt, Eltern geben ihre Kinder in SOS-Kinderdörfer, und viele junge Menschen wollen ins Ausland. Was Krise und Sparmaßnahmen aus der griechischen Arbeitswelt gemacht haben
Die Zahl der Obdachlosen ist nach Schätzungen innerhalb eines Jahres um mehr als 25 Prozent gestiegen
Auf den Straßen um den Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlamentsgebäude ist wie jeden Tag die Hölle los. Scharenweise strömen die Pendler aus der Metrostation und hetzen zur Arbeit. Taxis bilden eine viel zu lange Schlange am Taxistand. Genervte Autofahrer hupen, während die Busse versuchen, so nah wie möglich an den Bürgersteig ranzufahren, damit die wartenden Fahrgäste einsteigen können. Auf einer Parkbank in der Mitte des Platzes sitzt der 28-jährige Dimitris. Das Chaos um ihn herum scheint ihn nicht zu interessieren. In seinen Händen hält er einen Becher Kaffee. "Ich bin gerade entlassen worden", sagt er mit leiser Stimme.
Dimitris war als Diplom-Mathematiker bei einem Meinungsforschungsinstitut angestellt. Er ist überzeugt, seine Entlassung hängt damit zusammen, dass er sich nicht alles gefallen ließ: "Unser Gehalt wurde von 750 Euro auf 580 Euro gekürzt. Und obwohl man uns immer sagte, dass wir wegen der Krise viel weniger Aufträge haben, mussten wir jeden Tag unbezahlte Überstunden machen", sagt der junge Mann mit der dunklen Kunststoffbrille. Er habe sich darüber beschwert, und sein Arbeitgeber antwortete prompt mit der Kündigung. Hätte er eine Familie zu ernähren, er hätte einfach den Mund gehalten, sagt er. Bei der hohen Arbeitslosigkeit.
Wer jung ist, geht weg
Wie das griechische Statistikamt Anfang März bekanntgab, erreichte die Arbeitslosigkeit im vergangenen Dezember ein Rekordhoch von 21 Prozent. Noch drei Jahre zuvor lag sie bei nicht einmal neun Prozent. Besonders betroffen von der dramatischen Lage auf dem Arbeitsmarkt sind die jungen Menschen unter 25 Jahren. Fast jede/r Zweite hat keinen Job. Auch Slaviana nicht. Die 23-Jährige gelernte Fotografin sitzt mit ihrer 13 Monate alten Tochter Ismini in einem Café unweit der U-Bahn-Haltestelle Thissio. Ismini hat einen Keks in der Hand und hat sichtlich Vergnügen an ihm. Doch Slavianas Gesichtsausdruck bleibt ernst. Sie macht sich Sorgen. "Mein Mann und ich sind Fotografen und zurzeit arbeitslos", sagt sie. In Griechenland gebe es für ihre Familie keine Perspektive mehr. Deshalb möchte sie so bald wie möglich auswandern.
Slaviana wandert samt Familie aus
"Oft sitze ich zu Hause und möchte nur noch heulen. Auf Zypern könnte ich vielleicht als Übersetzerin arbeiten", sagt Slaviana, die wegen ihrer ukrainischen Wurzeln auch Russisch spricht. "Zurzeit gibt es viele russische Investoren auf Zypern. Da sind gute Russischkenntnisse sehr gefragt." Schon in den nächsten Monaten soll es soweit sein. "Es fällt mir schwer wegzugehen. Jetzt muss ich noch einmal von vorn anfangen", sagt Slaviana. "Aber für sie mache ich es." Sie zeigt auf ihre Tochter und drückt sie noch fester an sich.
Ungewissheit ist unter den Griechen inzwischen vielleicht das Beständigste. Die 32-jährige Bankangestellte Katerina spürt diese Angst unter Kollegen und Freunden. "Wir sind an einem Punkt angelangt, dass wir froh sind, überhaupt noch eine Arbeit zu haben - egal zu welchen Bedingungen", sagt die zierliche Frau mit den braunen schulterlangen Haaren. Seit Monaten gebe es in ihrer Bankfiliale, 500 Meter vom zentralen Syntagma-Platz entfernt, ein großes Durcheinander: "Es wird Personal abgebaut, viele werden zu anderen Filialen geschickt, wir spüren eine sehr große Unsicherheit und wissen nicht, ob wir nächsten Monat noch eine Arbeit haben werden."
Noch bis Oktober hat Katerina rund tausend Euro netto bekommen. Seit November ist ihr Monatsgehalt auf 850 Euro gesunken, obwohl das Arbeitsvolumen enorm angestiegen ist. Außer ihrer Muttersprache Griechisch, spricht die diplomierte Anglistin mit Master in Wirtschaftswissenschaften perfekt Englisch, Deutsch und Französisch. Doch eine Zukunft im eigenen Lande sieht auch sie nicht mehr: "Wenn es so weiter geht, bleibe ich nicht hier." Nach Arbeitsstellen im Ausland guckt sie bereits.
Immer mehr Obdachlose
Voula und Makis verloren erst ihre Arbeit, dann ihre Wohnung
Wohin der Verlust der Arbeitsstelle führen kann, zeigt das Beispiel von Voula und Makis, einem Paar, das noch bis zum vergangenen Sommer ein normales Leben führte: Die 23-jährige Voula hatte als Kassiererin in einem Supermarkt gearbeitet, der 38-jährige Makis immer wieder befristet bei der Athener Feuerwehr. Zusammen wohnten sie in einer bescheidenen Zwei-Zimmer-Wohnung in Nikaia, einem Arbeiterviertel von Piräus, rund eine Stunde vom Athener Stadtzentrum entfernt. Zuerst verlor Voula ihre Arbeit, und wenige Tage später wurde auch Makis Vertrag nicht verlängert. "Dann ging alles sehr schnell", erinnert sich Makis und starrt ins Leere. Am Anfang lebten sie noch von ihren Ersparnissen, doch irgendwann konnten sie ihre Miete nicht mehr zahlen und landeten auf der Straße.
"Ich hätte mir nie im Leben vorstellen können, dass mir das passiert", sagt der schlanke Mann mit dem dunklen Schnurbart. "Wenigstens sind wir zu zweit", fügt Voula hinzu, "denn für eine Frau ist es sehr gefährlich, auf der Straße zu leben. Sexuelle Übergriffe, Vergewaltigungen und körperliche Gewalt sind alltäglich." Seit zwei Monaten haben Voula und Makis in der Obdachlosenunterkunft der Nicht-Regierungsorganisation Klimaka Unterschlupf gefunden. Hier wird ihnen ein kleines Zimmer zur Verfügung gestellt: mit einem Doppelbett, ein paar Decken, einem einfachen Kleiderschrank und zwei Holzstühlen. Nur das Nötigste eben, doch für Voula und Makis im Moment viel. Sie können sich hier waschen und bekommen eine warme Mahlzeit. "Der Staat ist leider abwesend", sagt Voula. "Umso wichtiger sind solche Initiativen. So können wir diese schwierige Zeit überbrücken, bis wir wieder einen Job haben und eine kleine Wohnung finden." In ihrer Situation will Voula lieber nicht über die Zukunft nachdenken: "Es gibt keine Zukunft! Wenn sich nichts ändert, gibt es keine Zukunft", sagt sie mit einem bitteren Lächeln.
Anda Alamanou, Leiterin des Obdachlosenprojektes der Klimaka, schätzt, dass die Obdachlosenzahl innerhalb eines Jahres um mehr als 25 Prozent gestiegen ist. "Es handelt sich um eine neue Kategorie Obdachloser", erklärt sie, "wir nennen sie Neu-Obdachlose. Anders als die Obdachlosen, mit denen wir bisher gearbeitet haben und die meistens psychische Probleme hatten oder drogensüchtig waren, handelt es sich hier um Menschen, die allein wegen der Krise auf der Straße sind." Die Organisation versucht, diesen Menschen eine Arbeitsstelle zu vermitteln, so dass sie wieder in der Gesellschaft Fuß fassen. "Doch jetzt, wo die Arbeitslosigkeit so hoch ist, ist es wirklich nicht einfach", sagt Anda Alamanou. Auch für Voula und Makis nicht. Bis dahin helfen sie bei der Klimaka aus: Sie verteilen die Lebensmittel, die Bürger und Händler vorbeibringen, an andere Obdachlose und helfen in der Küche aus. "Das tut uns gut. So fühlen wir uns wieder ein bisschen nützlich", sagt Voula.
Zwei Jobs für 750 Euro im Monat
Minou Koraki arbeitet für 500 Euro im Monat in einem Café
In einem verqualmten Café in Petralona, einem Kleine-Leute-Viertel in der Nähe der Akropolis, arbeitet die 26-jährige Minou Koraki. Die Wände sind mit bunten Postern und Zeitungsartikeln beklebt. Drei Studenten sitzen an einem der zwei kleinen runden Tische am Eingang, rauchen und unterhalten sich laut. Minou steht hinter dem schwarzlackierten Tresen und wäscht Gläser. "Ich arbeite von morgens bis abends und komme nicht über die Runden", sagt sie, und ihre Stimme klingt dabei traurig und erschöpft. Für ihre Arbeit im Café bekommt sie 500 Euro. Abends arbeitet sie noch in einer Galerie: "Dort muss ich meinem Gehalt hinterherbetteln. Und ohne mich vorher darüber zu informieren, haben sie mir das Geld einfach auf die Hälfte gekürzt, auf 250 Euro!" Mit insgesamt 750 Euro im Monat kann Minou gerade mal ihre Miete und ihre Rechnungen bezahlen. Geld zum Leben bleibt da nicht.
"Ich war immer sehr optimistisch, doch mittlerweile glaube ich nicht, dass es irgendwann mal besser wird", sagt Minou. Man müsse ja nur die gerade beschlossenen Reformen auf dem Arbeitsmarkt betrachten. Tatsächlich dürfen Arbeitgeber nun den im Nationalen Allgemeinen Tarifvertrag festgesetzten Mindestlohn von 751 Euro brutto auf 586 Euro senken. Berufsanfänger erhalten gar nur 510 Euro brutto. "Wer kann mit so wenig Geld auskommen?", fragt sich Minou und schüttelt den Kopf. Die Reformen kämen doch nur den Arbeitgebern zugute. Und mache sie noch mächtiger. Die Befürchtung kommt nicht von ungefähr. Universitätsprofessor Savvas Robolis, Leiter des Arbeitsinstituts des griechischen Gewerkschaftsbundes GSEE, kritisiert die Reformen im Bereich der Tarifverträge als Maßnahmen, die gegen nationales und internationales Recht verstoßen, vor allem gegen das Recht auf Tarifverhandlungen. Dabei gehe es nicht nur um die einseitige Kürzung des Mindestlohns: "Die Tarifverträge haben ab sofort eine viel kürzere Laufzeit, und wenn sie nicht verlängert werden, kommt es zu einer ad hoc Aufhebung." Auch Schlichtungen bei ins Stocken geratenen Tarifverhandlungen seien jetzt viel schwieriger geworden, da nun beide Seiten der Schlichtung zustimmen müssen.
Der Müll bleibt mancherorts einfach liegen
Robolis ist davon überzeugt, dass die Maßnahmen das Ziel verfolgen, die Tarifrunden ganz abzuschaffen: "Dahinter steckt das Bestreben, dass Tarifverträge von Einzelverträgen verdrängt werden. Die Gewerkschaften können sich dann nicht mehr für die Rechte der Arbeitnehmer einsetzen." Die griechischen Gewerkschaften haben sich deshalb längst an die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen gewandt. Und die Solidarität seitens ausländischer Gewerkschaften wachse, sagt Robolis: "Sowohl die Dachorganisation der deutschen Gewerkschaften, der DGB, als auch der Europäische und der Internationale Gewerkschaftsbund kämpfen mit uns für unsere Rechte."
Kinder in Not
Christoforos Vernardakis, Politologieprofessor an der Universität von Thessaloniki und wissenschaftlicher Mitarbeiter des renommierten Meinungsforschungsinstituts VPRC, ist davon überzeugt, dass die Finanzkrise zu einer großen gesellschaftlichen Krise geführt hat. "Der Sozialstaat ist gestorben. Die familiären Strukturen, so wie wir sie in Griechenland kannten, lösen sich auf. Die Arbeitslosigkeit wird jetzt auf 25 Prozent geschätzt. Es gibt immer mehr verzweifelte Eltern, die sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern können." Das bestätigt auch Stelios Sifnios vom Athener SOS-Kinderdorf. "Es kommen immer mehr Eltern zu uns, die eine Zeit lang ihre Kinder bei uns lassen wollen, bis sie wieder eine Arbeit haben", sagt er mit Tränen in den Augen. Doch das Kinderdorf hat keine Kapazitäten mehr. "Wir glauben, es ist besser, diese Familien finanziell zu unterstützen, als die Kinder von ihren Eltern zu trennen." Rund 800 Familien würden zurzeit von den griechischen SOS-Kinderdörfern unterstützt. "Und täglich erreichen uns neue Anfragen", sagt Sifnios.
250.000 Menschen essen mittlerweile täglich in kirchlichen Suppenküchen
Vor allem die Unter- und Mittelschicht spürt die Krise. 250.000 Menschen essen mittlerweile in den Suppenküchen der Kirchen. Und immer weniger Menschen haben das Geld, zum Arzt zu gehen. Das führt dazu, dass immer mehr Patienten öffentliche Krankenhäuser aufsuchen. So auch das Krankenhaus Evangelismos, eine Metrohaltestelle vom Syntagma-Platz entfernt. Auf den Fluren des Krankenhauses herrscht jeden Tag ein geschäftiges Treiben: Leute gehen ein und aus. Einige wollen ihre Verwandten besuchen, doch die meisten sind hier, um sich selbst von einem Arzt für nur fünf Euro untersuchen zu lassen. Die lange Wartezeit nehmen sie in Kauf.
Das Geld reicht einfach nicht
Es ist laut und voll. Eine Putzfrau wischt den Flur. Krankenpfleger Dimitris Pistolas von der Transplantationsabteilung flitzt von einem Zimmer ins nächste. "Die Situation ist dramatisch. Nachts ist ein Pfleger für bis zu 30 Patienten zuständig, in der Intensivabteilung einer für fünf." Das seien drei Mal so viele Patienten wie unter guten Bedingungen, sagt der 40-Jährige. Und es wird noch schlimmer: 2011 wurde kein Personal eingestellt, obwohl viele Krankenschwestern und Pfleger in Rente gingen. 2012 kommt - wie bei allen Staatsbediensteten - auf fünf frei werdende Stellen nur eine Neueinstellung.
Als Pfleger in einem öffentlichen Krankenhaus hat Dimitris Pistolas nach 20 Jahren im Beruf bis vor zwei Jahren fast 1400 Euro netto verdient. Seit kurzem greift auch bei seiner Berufsgruppe die einheitliche Gehaltstabelle im öffentlichen Dienst. Dimitris Pistolas kommt so auf weniger als 1000 Euro im Monat. "Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben so richtig verzweifelt", sagt der schlanke Mann im weißen Kittel. "Das Geld reicht einfach nicht." Froh ist er, unter diesen Umständen noch keine Familie gegründet zu haben. Seine Kollegen mit Familie seien da viel schlimmer dran, müssten sogar von ihren Eltern finanziell unterstützt werden: "Viele leben mittlerweile von der ohnehin schon kleinen Rente ihrer Eltern!"
Die Bankangestellte Katerina ist froh, überhaupt noch Arbeit zu haben
Betroffen von den Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst ist auch die 31-jährige Katerina. Sie verdient jetzt unter 1000 Euro bei einer 40-Stunden-Woche. Die Diplom-Juristin hatte sich vor drei Jahren auf ihre Stelle beim Wirtschaftsministerium beworben: "Damals dachte ich, ich hätte einen Sechser im Lotto erwischt", erinnert sie sich. Denn vor der Krise galt eine Stelle im öffentlichen Sektor als Garantie für eine feste Arbeitsstelle bis zur Rente. Jetzt habe sie Angst, dass die geplante Streichung von 15.000 Beamtenstellen im Laufe dieses Jahres auch sie treffen könnte. "Bei jeder Umstrukturierung fragen wir uns, ob wir in eine Abteilung versetzt werden, die dieses Jahr geschlossen wird. Diese Angst ist unbeschreiblich."