Wenn in Folge der Krise die Massenarbeitslosigkeit steigt, sollten die Gewerkschaften die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten wieder auf die Tagesordnung setzen. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Ein Beitrag zur Debatte

von Werner Sauerborn

Im Grunde ist Arbeitszeitverkürzung die Königsdisziplin gewerkschaftlicher Tarifpolitik, gewerkschaftlicher Politik überhaupt. Über die Verteidigung des materiellen Überlebens im Kapitalismus hinaus, schafft sie Spielräume für ein besseres Leben: Wir können mehr für uns, unsere Gesundheit oder Bildung tun, für Beziehungen und Familien. Männer, die sich in Umfragen mehr noch als Frauen kürzere Arbeitszeiten wünschen, hätten die Gelegenheit, sich mehr um Kinder und Familie zu kümmern und so ihren überfälligen Teil zur Geschlechtergerechtigkeit beizutragen. Wie auch immer wir kürzer arbeiten, wir könnten uns besser um die Gesellschaft kümmern, uns gegen Angelegenheiten engagieren, die uns schon lange ärgern, und in der Politik oder bei den Gewerkschaften aktiver werden. Das alles wäre nicht automatisch so, aber die Chancen würden greifbar. Arbeitszeitverkürzung, so wie wir sie wollen, ist Gesellschaftsveränderung.

Vor allem aber ist Arbeitszeitverkürzung unser entscheidender strategischer Hebel gegen Massenarbeitslosigkeit, die die Durchsetzungsbedingungen für Gewerkschaften entscheidend schwächt. Die Produktivität je Arbeitsstunde in Deutschland ist von 1991 bis 2006 um 32,4 Prozent gestiegen. Ein Drittel mehr Wachstum, um den Beschäftigungsstand zu halten, ist kaum möglich und oft - Stichwort Klima - auch nicht sinnvoll. Dabei hat das extreme Exportwachstum nur bewirkt, dass eine ansonsten noch höhere Arbeitslosigkeit mit unseren Außenhandelsüberschüssen "exportiert" wurde - und jetzt, wenn die Exporte einbrechen, wieder zurückkehrt und den krisenbedingten Anstieg der Erwerbslosigkeit in Deutschland spätestens im Herbst erheblich zuspitzen wird.

Nicht Kür, sondern Pflicht

Produktivitätssteigerungen, die Arbeit effektiver und damit tendenziell überflüssig machen, sind etwas Urkapitalistisches. Entsprechend muss es zu den grundsätzlichen gewerkschaftlichen Anliegen gehören, diesen Mechanismus durch Arbeitsumverteilung zu kontern. Arbeitszeitverkürzung ist deswegen nicht gewerkschaftliche Kür, sondern Pflicht, genauso wie Lohnpolitik. Diese Pflicht hat die Arbeiterbewegung historisch im Großen und Ganzen auch erfüllt. Gerade in der Nachkriegszeit wurde, ausgehend von der 48-Stunden-Woche, die wöchentliche Arbeitszeit verkürzt, der Samstag frei gekämpft und der Urlaub ausgeweitet. Nicht von ungefähr nahm die Arbeitslosigkeit Anfang der 90er Jahre sprunghaft zu - gerade zu der Zeit, als die bis dahin erfolgreiche Politik der Arbeitszeitverkürzung endete. Die Massenarbeitslosigkeit, demnächst sind fünf Millionen Menschen in Deutschland und 240 Millionen weltweit betroffen, ist auch die Folge nicht durchgesetzter Arbeitszeitverkürzung und erst recht: nicht verhinderter Arbeitszeitverlängerung.

Eigentlich wissen wir das. Noch bei jedem Bundeskongress haben wir uns in die Hand versprochen, einen neuen Anlauf zu nehmen in der Arbeitszeitverkürzungspolitik. Und natürlich haben die Mahner/innen und Kritiker/innen Recht, die eine 30-Stunden-Woche in Europa fordern. Aber jeder, der die Stimmung in Betrieben oder Tarifkommissionen kennt, weiß, dass nach jahrelangen Reallohneinbußen Arbeitszeitverkürzung beim besten Willen nicht für mobilisierbar, allenfalls für eine schöne Utopie gehalten wird. Pragmatiker, die wir sind, haben wir das Drehen an den großen arbeitszeitpolitischen Rädern zurückgestellt, um es an kleineren weiter zu versuchen.

Was haben wir falsch gemacht?

So unbestreitbar schwierig derzeit ein Wiederaufgreifen des Themas Arbeitszeitverkürzung ist, so unmöglich ist es - vom anderen Ende her gedacht - für eine Gewerkschaft im Angesicht einer Riesenwelle von Arbeitslosigkeit, das Thema Arbeitszeitverkürzung zu beerdigen - das grenzte an Selbstaufgabe. Aber moralischer Anspruch und das Hantieren mit Untergangsszenarien werden nicht viel helfen, solange die Ursache für die Zurückhaltung beim Thema Arbeitszeitverkürzung nicht geklärt ist. Liegt es daran, dass wir die Forderung nicht gut genug begründet und erklärt haben? Oder dass wir sie nicht zeitgemäß oder personenbezogen genug gefasst haben? Warum erwärmt sich die Kollegin in einem Druckbetrieb, der Kollege bei der Abfallwirtschaft oder bei der Telekom nicht für die guten Argumente für Arbeitszeitverkürzung? Weil sie oder er nicht glauben, dass sie damit ihre Arbeitsplätze sichern, sondern befürchten sie zu gefährden! Sie wissen, dass eine Verkürzung ihrer Arbeitszeit, die nicht durch Arbeitsverdichtung oder Lohnverzicht bezahlt wird, Kosten für ihren jeweiligen Arbeitgeber darstellt. Das würde sie nicht weiter beeindrucken, wenn sie davon ausgehen könnten, dass auch alle anderen Firmen, mit denen ihr Arbeitgeber im Wettbewerb steht, die höheren Kosten einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung tragen müssten. Davon können sie aber leider nicht ausgehen, weil wir mit unseren Tarifverträgen nur noch Teile der jeweiligen Branche abdecken: bei der Telekom nicht deren Konkurrenten Vodafone oder O2, bei der Abfallwirtschaft nur teilweise die private Konkurrenz, beim Druckbetrieb nicht Wettbewerber in den neuen Bundesländern oder in Russland. Also fürchten die Kolleginnen und Kollegen, dass ihre Unternehmen weniger profitabel als andere würden, sich Investoren zurückziehen könnten oder dass die Druckerzeugnisse, Abfallgebühren, Telefonverträge sich verteuern könnten, was den Verlust von Marktanteilen und damit Arbeitsplätzen zur Folge hätte.

Gegen diese oft sehr realistische Befürchtung verpufft jedes volkswirtschaftlich gute Argument, wonach Lohnerhöhungen die Massenkaufkraft stärken und Arbeitszeitverkürzungen die Arbeitslosigkeit eindämmen würden. Wir haben zu lange festgehalten an unseren scheinbar selbstverständlichen Tarif- und Gewerkschaftsstrukturen. Wir haben versäumt, die Veränderungen der Wirtschaftsstrukturen der letzten 20 Jahre nachzuvollziehen. Jetzt können wir den Kollegen nicht mehr zusagen, dass das, was für ihren Arbeitgeber gilt, auch für alle seine Konkurrenten gilt, dass es deshalb nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, wenn wir dem Arbeitgeber Mehrkosten aufs Auge drücken.

Unser Problem mit der Arbeitszeitverkürzung ist vor allem ein Durchsetzungsproblem, ein Problem unserer realitätsfernen gewerkschaftlichen Strukturen - und kann letztlich auch nur in diesem Zusammenhang gelöst werden. Die auf uns zu rollende Massenarbeitslosigkeit wird uns branchen- und grenzüberschreitend treffen. Da könnte eine gemeinsame Forderung nach Arbeitszeitverkürzung auch ein Vehikel der Gewerkschaftserneuerung sein. Gerade Arbeitszeitverkürzung lässt sich nur gemeinsam in Überwindung der Konkurrenz zwischen Belegschaften der gleichen, oft grenzüberschreitenden Branche durchsetzen - oder gar nicht. Gewerkschaften, die eine solche Perspektive nicht eröffnen, treiben die Belegschaften geradezu in antisolidarische Bündnisse mit ihren Arbeitgebern. Deswegen sollten wir auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene Arbeitszeitverkürzung neben Mindestlöhnen und Konjunkturprogrammen auf die Tagesordnung setzen und alles dafür tun, diese Forderung schnell umsetzbar und gemeinsam streikfähig zu machen.

Während dies erste notwendige Schritte auf einem weiten Weg sind, steht die Tarifrunde im öffentlichen Dienst in Deutschland vor der Tür. Und das zu einer Zeit, in der die Massenarbeitslosigkeit in die Höhe schnellen wird. Zwar steht auch der öffentliche Dienst unter erheblichem Kostendruck und war deswegen oft Vorreiter bei Arbeitszeitverlängerungen, er ist aber zumindest in seinem Kernbereich nicht so starken Konkurrenzverhältnissen ausgesetzt, die Streiks in vielen privaten Bereichen erschweren. Zudem ist der Neoliberalismus als Ideologie am Boden, der öffentliche Dienst und seine Aufgaben dagegen haben an Anerkennung gewonnen, in der Krisenbekämpfung sind sie fast unbestritten. Eine Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei maximalem Lohnausgleich, die den Staat in seiner beschäftigungspolitischen Verantwortung fordern würde, wäre plausibel, begründbar und bei guter Vorbereitung sicher auch streikfähig.

Der öffentliche Sektor könnte so die Rolle des Zugpferds gewerkschaftlicher Antikrisenpolitik einnehmen. Tarifauseinandersetzungen um kürzere Arbeitszeiten müssten im privaten Sektor und grenzüberschreitend anschlussfähig gemacht und koordiniert werden. Da in den meisten Branchen aus den genannten Gründen und erst recht in Krisenzeiten tarifliche Kämpfe für kürzere Arbeitszeiten schwierig sind, käme es darauf an, eine betriebs- und branchenübergreifende politische Forderung zu entwickeln - nach gesetzlicher Arbeitszeitverkürzung, nach Höchstarbeitszeiten und/oder finanzieller oder regulatorischer Förderung einer Arbeitszeit verkürzenden Tarifpolitik. In dieser Hinsicht konfliktfähig zu sein, bedeutet, das politische - also auf den Gesetzgeber und nicht den Arbeitgeber - gerichtete Streikrecht in Anspruch zu nehmen. Dass dies Gewerkschaften verboten sei, ist auch so ein alter Zopf aus den Zeiten des deutschen Nachkriegskapitalismus. Zugestanden hatten wir den Verzicht auf das politische Streikrecht gegen die Zusage der Arbeitgeber, die Einheitsgewerkschaften, die Mitbestimmung und vor allem die Flächentarifverträge zu respektieren. Das tun sie bekanntlich nicht mehr. Was also hält uns?

unser autor Werner Sauerborn (59) ist Referent der Landesleitung ver.di Baden-Württemberg. Der Soziologe war nach dem Studium wissenschaftl. Assistent beim Otto-Suhr-Institut (OSI) der Fu Berlin und forschte damals für den DGB. 1983 trat er in die Dienste der ÖTV. Die PUBLIK-Redaktion würde sich freuen, wenn über Seinen beitrag zum Thema Arbeitszeit im ver.di-Mitgliedernetz ein reger Meinungsaustausch stattfände: www.mitgliedernetz.verdi.de