Ausgabe 04/2012
Die Finanzwelt fest im Blick
Rauf und runter, die Börse im Fallen und Steigen. Es reicht nicht, sich darüber nur zu wundern. Finance Watch sieht genauer hin
VON Werner Rügemer
"Wir brauchen Banken, die die Wirtschaft mit Geld versorgen. Wir brauchen keine Banken, die auf alles wetten, was sich bewegt", sagt Thierry Philipponat. Er hat lange in der United Bank of Switzerland (UBS) gearbeitet, der größten Schweizer Bank, die als Mitverursacher der Finanzkrise und für weltweite Beihilfe zur Steuerhinterziehung bekannt ist. Philipponat wollte solche Praktiken nicht mehr mittragen. Er stieg aus, ging zunächst zu Amnesty International. Seit dem 30. Juni 2011 ist er Generalsekretär von Finance Watch in Brüssel.
2010 hatten mehrere Mitglieder des Europäischen Parlaments den "Aufruf für eine Finanzbeobachtung" lanciert. Unter den Unterzeichnern dominierten Grüne und Sozialisten bzw. Sozialdemokraten, aber auch einige Mitglieder der Europäischen Volkspartei und der Liberalen, und einige von der Linkspartei waren dabei. Sie sind unzufrieden mit der Europäischen Kommission und den europäischen Regierungschefs, die auch nach der letzten Finanzkrise 2007 die Macht der Finanzakteure weitgehend unangetastet ließen. "Die Asymmetrie zwischen der Macht der Finanzlobby und dem Fehlen einer Gegen-Expertise stellt eine Gefahr für die Demokratie dar", hieß es im Aufruf. In den USA sei bekannt, wie groß der Einfluss der Investmentbank Goldman Sachs auf die Regierung sei. Auch in der EU gebe es enge Verbindungen zwischen Banken, Kommission und Politikern. Während Gewerkschaften und Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) in den Bereichen von Umwelt, Gesundheit und sozialen Fragen schon ein Gegengewicht gegen die jeweilige Unternehmerlobby in Brüssel geschaffen haben, gebe es dies im Bereich Finanzen bisher nicht. Hier agiere ganz allein die Lobby der Banken, Versicherungen und Hedgefonds. Das führe zu falschen Entscheidungen im EU-Parlament und in der EU-Kommission. Das müsse geändert, eine Finanz-NGO müsse gegründet werden.
Im Juni 2011 wurde Finance Watch als "Association Internationale sans but lucrativ", als internationale Vereinigung ohne Gewinnziel, also gemeinnützig, nach belgischem Recht eingeschrieben. Man kann sich als "Freund von Finance Watch" registrieren lassen und erhält kostenlos einen Newsletter. Zusätzlich kann man eine monatliche Spende ab fünf Euro überweisen. Den Freundes-Status kann man jederzeit beenden. Um festes Mitglied zu werden, muss man "relevante berufliche Erfahrungen oder Qualifikationen" nachweisen. Diese "qualifizierten Mitglieder" müssen aktiv zur Arbeit von Finance Watch beitragen, in Arbeitsgruppen oder bei Reform-Kampagnen. Auch Organisationen können Mitglied werden. Alle Mitglieder müssen unabhängig von Finanzindustrie und -lobby sein. Über die Aufnahme entscheidet das "Komitee für Transparenz und Unabhängigkeit". Die Mitglieder bestimmen die Arbeitsschwerpunkte.
Zu den etwa 30 Mitgliedsorganisationen gehören attac, Amnesty International, Friends of the Earth, mehrere Verbände von Verbraucherschützern und privaten Anlegern, einige Forschungs- und Reforminstitute und der Europäische Gewerkschaftsbund.
Lobbyisten machen Politik
Das jährliche Budget von Finance Watch beträgt zwei Millionen Euro. Nur ein paar Prozent bringen die Mitglieder auf. Der größte Teil kommt von Stiftungen, Privatpersonen und aus EU-Fördertöpfen. Finanziell können die alternativen Finanzwächter nicht mit den 400 Millionen Euro konkurrieren, die den etwa 700 hochbezahlten Lobbyisten der Finanzindustrie zur Verfügung stehen. Damit haben die sich bisher viel Einfluss verschaffen können. Deshalb, so hat Finance Watch festgestellt, finden sich in Gesetzesvorschlägen von EU-Abgeordneten aus verschiedenen politischen Parteien immer wieder dieselben Formulierungen. Sie werden von den Lobbyisten vorformuliert und vielfach ohne Änderung in die parlamentarischen Beratungen eingebracht - mit Erfolg.
Das war der Fall, als es um die Kontrolle der Hedgefonds ging, der mächtigsten Finanzakteure. Da konnten die Lobbyisten der Finanzindustrie eine schärfere Kontrolle abwehren. Aus solchen Erfahrungen haben die kritischen EU-Parlamentarier ihre Konsequenz gezogen.
Seit Mitte 2011 sind Finance-Watch-Generalsekretär Philipponat und immerhin zwölf hauptamtliche Mitarbeiter an der Arbeit. Sie besteht bisher vor allem darin, zu anstehenden Entscheidungen alternative Stellungnahmen zu veröffentlichen. Die Finanz-NGO wird inzwischen auch von der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank zu Konferenzen und Hearings eingeladen. "Investieren statt wetten" heißt eine Stellungnahme vom April 2012. Es geht um die EU-Richtlinie zur Regulierung der finanziellen Dienstleistungen. Diese Richtlinie aus dem Jahr 2004 sollte den Wettbewerb zwischen den Finanzinstituten fördern und die Verbraucher schützen. Sie soll nun überarbeitet werden. Dazu stellt Finance Watch fest: Die aktuellen Formen der Finanzdienstleistungen "dienen nicht dem Ziel, Spargelder und Kapital für die wirtschaftliche Entwicklung zur Verfügung zu stellen". Ein Beispiel dafür ist die Spekulation mit Nahrungsmitteln, die die Preise für Getreide und Reis explodieren lässt und vor allem die Armen trifft.
Die Macht der Ratings
Ähnlich sieht es bei der Stellungnahme von Januar 2012 zu den Rating-Agenturen aus. Finance Watch kritisiert die "übergroße Abhängigkeit des gesamten Finanzsystems von den Ratings". So hätten die Agenturen auch die Staatsschulden-Krise in der EU beschleunigt. Deshalb der Vorschlag: Die Verbindlichkeit der Ratings aus den Statuten der Europäischen Zentralbank, aus allen nationalen Gesetzen und aus den internen Regeln der Banken entfernen! Die Ratings sollte man als finanztechnische Einschätzungen behandeln, denen Staaten und Finanzakteure folgen können oder auch nicht, so die Finanzwächter.
Das wäre gewiss ein richtiger Schritt. Aber man müsste noch weiter gehen: Die drei marktbeherrschenden Agenturen Standard & Poor's, Moody's und Fitch sind ungeeignet, Unternehmen und Staaten zu bewerten. Denn die Agenturen stehen prinzipiell auf der Seite der Kreditgeber. Sie verlangen die Rückzahlung von Krediten - ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Rücksicht darauf, wie die Kredite zustande gekommen sind und ob die Kreditgeber bei der Vergabe die notwendige Sorgfalt angewandt haben.
Man müsste auch die Tatsache einbeziehen, wer die Eigentümer der Agenturen sind, nämlich Hedgefonds wie Blackrock. Blackrock ist auch Großaktionär der Deutschen Bank und aller 30 deutschen DAX-Konzerne. Die Agenturen spielen über ihre Eigentümer also nicht nur eine entscheidende Rolle im Finanzsystem, sondern auch im Wirtschaftssystem. Sie entscheiden mit über Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen.
Da wird eine Blindstelle im Beobachtungsraster der alternativen Finanzwächter deutlich. So betont Sven Giegold, Finanzexperte der Grünen im Europäischen Parlament und einer der Initiatoren von Finance Watch: Die bisherige Übermacht der Finanzlobby sei "schlecht für die Allgemeinheit, die Unternehmen, Kapitalanleger und Sparer". Das ist richtig. Doch offensichtlich gehören Arbeitslose, unentgeltlich Arbeitende, Empfänger staatlicher Transfers und vor allem die Beschäftigten für Sven Giegold und Finance Watch nicht so direkt zur "Allgemeinheit". Liegt da aber nicht der Kern des Problems, wenn Wirtschaft für die Menschen da sein soll?