Müntefering muss es gewesen sein, der den Kapitalismus 2004 wieder salonfähig gemacht hat. Also: salonfähig als Begriff, als Bezeichnung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Franz Müntefering, der Sozialdemokrat, der als Arbeits- und Sozialminister der großen Koalition nach 2005 als erster die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 forderte. Sprachbildend bis auf den heutigen Tag und vorausschauend damals seine Ansage, die uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf: „Kapitalismus ist keine Sache aus dem Museum, sondern brandaktuell.“ Sowas war ja in Bundesdeutschland bis dahin verboten. Wer dieses böse Wort in den Mund nahm, bekam sofort ein One-way-Ticket für den Interzonenzug „nach drüben“ verpasst, erst recht, als es „drüben“ schon längst gar nicht mehr gab (für die Jüngeren: „drüben“, das war bis 1989 die DDR, wo bekanntlich der real existierende Sozialismus beheimatet war). Man musste damals „Marktwirtschaft“ sagen oder, noch braver, „soziale Marktwirtschaft“. Heute macht sich eher lächerlich, wer unser System noch so nennt. Es klingt einfach zu blöd, jedes Kind weiß, dass das Propaganda ist, die ausgedient hat. Unsereins jedenfalls darf den Kapitalismus wieder Kapitalismus nennen, ohne gleich vom Verfassungsschutz als Umstürzler aufgeschrieben zu werden. Aber das heißt noch lange nicht, dass der Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. „Die Marktwirtschaft“ kommt in Politik und Medien zwar nur noch selten vor, dafür schwadronieren sie aber Tag und Nacht von „den Märkten“, die mal „nervös“ sind oder „besorgt“, dann wieder „optimistisch“ oder „erwartungsvoll“, als seien es intelligente Außerirdische, deren Macht wir hilflos ausgeliefert sind. In Wirklichkeit stehen dahinter aber Menschen mit bürgerlichen Namen und einem einigermaßen primitiven, aber handfesten Interesse: nämlich aus ihrem vielen Geld noch mehr Geld zu machen, koste es, was es wolle. Kapitalisten eben, mit ladungsfähiger Adresse.

Henrik Müller