SÜDDEUTSCHE ZEITUNG – 22. JUNI 2012

Sie pflanzen Blumen, backen Brötchen oder schneiden Haare: In Deutschland kommen Millionen Menschen nach einem vollen Arbeitstag nach Hause und haben netto nicht viel mehr verdient, als ein Hartz-IV-Empfänger vom Staat zum Leben und Wohnen bekommt. Im Hotel- und Gaststättengewerbe in Brandenburg beträgt die unterste Vergütung für einen Tarifbeschäftigten 6,29 Euro brutto die Stunde. Wer als Anfänger im bayerischen Konditorenhandwerk arbeitet, kommt auf 5,26 Euro. Und selbst eine Friseurin verdient nach der Gesellenprüfung in Schleswig-Holstein gerade einmal sieben Euro. Mehr als vier Millionen erhalten weniger als sieben Euro brutto die Stunde, gut 2,5 Millionen sogar nicht einmal sechs Euro die Stunde.

In 20 von 27 EU-Ländern gibt es gesetzliche Mindestlöhne. Auch in den USA, Kanada oder Japan sollen solche Untergrenzen Dumping-Löhne verhindern. Nur Deutschland hat bislang auf einen bundesweiten Mindestlohn verzichtet. Lediglich vier Millionen Beschäftigte in elf Branchen profitieren von Lohnuntergrenzen. Doch langsam bricht die Front gegen den Mindestlohn. Das linke Lager - SPD, Linke, Grüne, Gewerkschaften - war schon immer für ihn. Nun macht sich auch in der Regierung die Sorge breit, dass Arm und Reich immer weiter auseinanderdriften und dadurch das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft erschüttert wird. [...] Steht also - nach dem Aus für die Atomkraft - die nächste Politikwende bevor? Ist ein Mindestlohn notwendig, damit der soziale Kitt in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht weiter bröckelt? Es geht um eine Glaubensfrage.


Viel Gewinn, wenig Lohn

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG – 21. JUNI 2012

SZ: Sie sagen, kein anderes Industrieland habe die Krankenversorgung so stark an Konzerne abgegeben wie Deutschland. Gilt das deutsche Gesundheitssystem mit freier Arzt- und Krankenhauswahl nicht als vorbildlich?Ellen Paschke: Der Trend zur Privatisierung ist unverkennbar. Ich glaube, dass Vorteile in der Gesundheitsversorgung nicht wegen, sondern trotz Privatisierungen beobachtet werden können. Das ist auch ganz entscheidend auf Engagement und Idealismus der Beschäftigten im Gesundheitswesen zurückzuführen. Und dabei spielen Krankenhäuser als Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge eine ganz entscheidende Rolle. Die Erfahrungen zeigen leider, dass öffentliches Eigentum in der Regel zulasten der Bürgerinnen und Bürger privatisiert wird: Die Gewinne werden privatisiert, Verluste und Nachteile trägt das Gemeinwesen.

ELLEN PASCHKE IST MITGLIED IM VER.DI-BUNDESVORSTAND


Wer ist hier zuständig?

FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND – 6. JUNI 2012

Die Tarifpartner der Metall- und Elektroindustrie wollen über eigene Dienstleistungsverträge in der Branche verhandeln. Dazu haben sie sich in dem Ende Mai abgeschlossenen Tarifvertrag verpflichtet. Betriebe würden immer öfter Leistungen wie IT-Dienste, aber auch Metallverarbeitung auslagern und dafür Werkverträge abschließen, erklärte Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser [...]. "Das ist nichts Schlechtes, sondern ein Vehikel, um die Produktivität zu steigern." Das müsse mit Dienstleistungsverträgen möglich gemacht werden.

Damit könnte sich die ohnehin bestehende Konkurrenz der Gewerkschaften IG Metall und Verdi um neue Mitglieder verschärfen. Die IG Metall kämpft gegen Werkverträge bei industrienahen Dienstleistungen, weil die Lohn- und Arbeitsbedingungen häufig schlechter sind als im IG-Metall-Tarifvertrag. Eigene Dienstleistungen sind allerdings das originäre Aufgabengebiet von Verdi.