Dresche für die Unterschicht

Owen Jones: Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse | Owen Jones ist britischer Historiker und Journalist, ein knabenhafter Jüngling, der „linke Ideen verfechten will, weil die Linke derzeit so schwach ist“. In diese Bresche sprang er vor einem Jahr mit seinem Buch über Chavs, auf Deutsch jetzt als Prolls erschienen; eine Studie voller Zahlen, Fakten, Interviews, Statistiken und Verweisen und trotzdem lesbar wie ein Pop-Roman. Wären im vergangenen Jahr nicht zeitgleich die Krawalle in England ausgebrochen, der Titel wäre nicht groß aufgefallen. Doch seit den Ausschreitungen war der frühere parlamentarische Assistent für Gewerkschaften ein gefragter Gast in den Talkshows seines Landes. Eine landesweite Meinungsumfrage bestätigte kurz darauf seine beißenden Analysen. Und während draußen die Geschäfte brannten, hörte man Jones plötzlich zu.

Dabei war er für Prolls lediglich einer simplen Frage nachgegangen: Wie konnte es geschehen, dass ein Land, in dem der Stolz auf die Arbeiterklasse historische Tradition hat, heute nur noch verächtlich auf sie eindrischt? Jones recherchierte gründlich; er sprach mit Politikern, Medienmachern und Arbeitern. Die Antworten zeichnen das Bild einer ausgeklügelten Strategie neoliberaler Politiker, von Thatcher über Blair bis Cameron, zur Vertuschung der beispiellosesten Umverteilung von unten nach oben: Sorge dafür, dass niemand mehr zur Arbeiterklasse gehören will, propagiere „Wir sind alle Mittelschicht“, und real existierende Klassenunterschiede werden nicht mehr wahrgenommen. Stattdessen ist jeder selbst schuld, wenn ihm der Aufstieg nicht gelingt und er als Bodensatz zurückbleibt. Genannt Unterschicht. Was Jones’ Buch auch für uns so relevant macht, sind die geschilderten Maßnahmen, die den Boden für das Unterfangen Umverteilen bereitet haben: Die Vernichtung der Gewerkschaften Tausender von Arbeitsplätzenund durch den Abverkauf der heimischen Industrie, Privatisierung, Ausbluten von Kommunen, Entsorgung von Arbeitnehmervertretern aus den Parteien und Parlamenten, und vor allem die stete Begleitung der Diskriminierung und Verhöhnung unverschuldet Arbeitsloser durch die Medien. Vom Proll zum Hartzer ist der Weg nicht weit.

Diese Fleißarbeit kann man Owen Jones nicht hoch genug anrechnen. Ihm ist ein leicht verständliches, natürlich sofort als populärwissenschaftlich beleidigtes Panorama neoliberalen Denkens und Handelns gelungen, das dem Leser die Faust in der Tasche ballt. Er entlarvt die vermeintlich klassenlose Gesellschaft als groß angelegte Lüge zugunsten einer kleinen privilegierten Oberschicht. Und wie entschlossen die ihre Pfründe verteidigt, lässt sich derzeit an den blutig geschlagenen Gesichtern von Demonstranten in ganz Europa ablesen. Jenny Mansch

VAT Verlag André Thiele, 314 S., 18,90 €


Oliver Scherz / Ulf K.: Der fürchterliche Hermann | Dies ist die komische und rührende Geschichte einer wunderbaren Verwandlung durch die Fragen eines Kindes. Der fürchterliche Hermann ist ein Wachhund, der bisher alle durch sein Bellen vertrieben hat. Auf dem Cover wird schon eine überraschende Wendung der Geschichte verraten: Da apportiert Hermann vorsichtig zwei rosafarbene Ballettschuhe. Denn die Fragen des unerschrockenen und neugierigen Jungen Stig erinnern ihn an seine Träume, die er begraben hatte. Seine Besitzer konnten ihn erfolgreich davon überzeugen, dass er kein Talent zum Tänzer habe. Doch die pfiffigen Nachfragen und Richtigstellungen des Kindes er-mutigen ihn, seine sanfte und träume-rische Seite zu entdecken. Der Text von Oliver Scherz und die originellen Zeichnungen von Ulf K. ergänzen sich in ihrer Komik und Feinsinnigkeit aufs Beste. Eine wahre Ermutigung für Hunde und Menschen in jedem Alter! Bettina Klix

Oliver Scherz / Ulf K., Der fürchterliche Hermann, Peter Hammer Verlag 2012, 14,90 €, 24 S., ab 3 J.


John Lanchester: Kapital | Großstadtleben im Zeichen von Gentrifizierung, Migration, Immobilienblase und Finanzkrise. Davon erzählt John Lanchester in seinem fulminanten Roman und führt uns im Krisenjahr 2008 durch die Pepys Road, eine Wohnstraße im Süden Londons, deren alte Backstein-Arbeiterreihenhäuser mittlerweile Millionen wert sind. Mit Genuss tauchen wir ein in diese kleine Welt, die sich zu einem Mikrokosmos von wahrhaft Dickensschem Format auswächst. Und wir fiebern mit, wie sich die unterschiedlichen Schicksale entwickeln, die der Anwohner und die der Menschen, mit denen sie zu tun haben. Wer steht zum Schluss auf der Gewinnerseite, und wer kann einpacken? Der Banker mit seiner luxuriösen Gattin oder die afrikanische Politesse? Das hoch gehandelte Fußballtalent oder der polnische Handwerker? Der pakistanische Kioskbesitzer oder das ungarische Kindermädchen? Und was bedeuten die mysteriösen Postkarten, auf denen steht: Wir wollen, was ihr habt? Mit Überraschungen darf gerechnet werden. Ein erstklassiges Lesevergnügen, das nur einen Haken hat: nach knapp 700 Seiten ist es leider schon vorbei. Tina Spessert

Klett-Cotta 2012 , 682 S., aus dem Englischen von Dorothee Merkel, 24,95 €


Ursula Krechel: Landgericht | Dieses Buch erzählt die tragische Geschichte einer Familie, die durch die Nazidiktatur auseinandergerissen wird – und später nie wieder richtig zueinander findet. Im Mittelpunkt steht Richard Kornitzer, ein jüdischer Richter aus Berlin, der ins Exil nach Kuba flieht, nachdem er seine noch kleinen Kinder nach England in Sicherheit gebracht hat. Seine nicht-jüdische Frau Claire schafft es nicht mehr, ihrem Mann zu folgen und überlebt den Krieg in Deutschland. Ende der 40er Jahre kommt Richard zurück in die alte Heimat, aber dieses Land ist ihm fremd geworden, so wie er auch ein Fremder ist – für seine Kinder und in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die lieber alles vergessen und neu anfangen will, als sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Kornitzer findet sich damit nicht ab und kämpft – um seine Familie, um seinen Platz im Leben und um seine Anerkennung als Naziopfer. Und wird damit immer weiter zum Außenseiter. Ursula Krechel hat mit diesem nachdenklichen Roman den Deutschen Buchpreis 2012 gewonnen, und das völlig zu Recht. Tina Spessert

Verlag Jung und Jung 2012, 492 S., 29,90 €