Ein besseres Leben

Julie Otsuka: Wovon wir träumten | Ein Roman ohne Hauptfigur, ohne klassischen Plot, ohne übliche Dramaturgie: All dies ist Wovon wir träumten. Was wie ein Makel klingt, entpuppt sich als einzigartiges Konzept. Und als universelle Geschichte der Migration. Julie Otsuka berichtet vom Schicksal der Japanerinnen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA einwanderten. Auf der Überfahrt träumen die jungen Frauen von einem besseren Leben. Bei ihrer Ankunft warten am Hafen allerdings nicht die versprochenen jungen, erfolgreichen Männer. Sondern alte, arme Gestalten. „Wenn sie uns in ihren Briefen die Wahrheit gesagt hätten – dass sie keine Seidenhändler waren, sondern Obstpflücker, dass sie nicht in großen Häusern wohnten, sondern in Zelten und Scheunen, wären wir nie nach Amerika gekommen“, stellen die Frauen später fest.

Doch da ist es schon zu spät, da müssen sie längst auf Farmen schuften, in Bordellen, Großküchen und Wäschereien. Sie werden ausgebeutet und gedemütigt. Julie Otsuka pickt sich keine einzelne Frau heraus, sondern nutzt stets die „wir“-Perspektive und setzt „sie“ dagegen: die Männer, die Fremden, die Nachbarn. Tatsächlich stützt sich die 50-jährige Autorin auf echte Biografien. Ihre Chronik erstreckt sich über 23 Jahre: von der Schiffsanreise über Eingewöhnungsschritte und die Gründung eigener Familien bis hin zu Massendeportationen. Denn nach Kriegsanbruch galten die Japanerinnen nicht mehr als willkommene billige Arbeitskräfte, sondern als Feinde.

Im Rückblick notieren die als Dienstboten und Putzfrauen beschäftigten Migrantinnen: „Wir waren da, wenn sie uns brauchten, und wenn nicht, peng, waren wir weg. Wir blieben im Hintergrund, wischten leise die Böden, badeten ihre Kinder und putzten Ecken ihrer Häuser, die außer uns nie irgendjemand zu sehen bekam. Wir redeten selten. Wir aßen wenig. Wir waren sanft. Wir waren gut. Wir verursachten keine Probleme und ließen sie mit uns machen, was sie wollten.“ In ihrem leisen Buch gibt Julie Otsuka ihren Protagonistinnen laute Stimmen. Die allgemeingültige, zeitlose Geschichte steht für die Anpassungs- und Abgrenzungserfahrungen nahezu aller Migranten. Für ihre Überlebensstrategien, ihre Illusionen, ihre Hoffnung. Wovon wir träumten ist ein kluges Buch über Vorurteile und Feindbilder – und über die Verletzung der Menschenrechte. Günter Keil

Roman, Mare, 160 S., 18 €


Neil Stephenson: Error | Rund um Multiplayer-Online-Games ist mittlerweile eine millionenschwere Schattenökonomie erwachsen: Asiatische Computerspieler erarbeiten sich in den virtuellen Welten in Akkordschichten Gold, Gegenstände und bessere Charaktere, die sie dann gegen echtes Geld in den Westen verkaufen. „Goldfarming” heißt dieses Phänomen, und es bildet den Ausgangspunkt von Stephensons aktuellem Roman. Bekannt wurde der Autor mit seinen komplexen Cyberpunkromanen Snow Crash und Diamond Age, in denen er eine düstere Zukunft skizzierte. Im Vergleich dazu ist Error geradezu bodenständig, ein im Jetzt spielender Actionthriller. Es gibt Geiselnahmen und Nahkampfszenen, es geht nach Taiwan, Kanada und auf die Philippinen, es treten islamistische Terroristen, russische Mafiosi, Hacker und starke Frauenfiguren auf. Doch es wäre kein Stephenson, wenn nicht auch hier extrem gut recherchiertes Wissen vermittelt würde. Von Goldfarming-Ökonomie und Computerspiel-Marketing über internationale Flugrouten und Linguistik bis hin zu Militärstrategie oder Farbschemata reichen seine klugen Abschweifungen. Michael Brake

Roman, Goldmann/Manhattan 2012, 1024 S., 24,99 €


Eric Metaxas: Wilberforce. Der Mann der die Sklaverei abschaffte | In diesem Jahr feiern wir das Jubiläum der 150 Jahre US-amerikanische Sklavenbefreiung, was Spielbergs Geschichtsstunde Lincoln und Tarantinos Rachefantasie Django Unchained filmisch in Erinnerung rufen. Wer aber weiß schon, dass im Britischen Empire die erste Etappe des Kampfes gegen das Menschheitsübel schon 1807 erreicht wurde, als zunächst nur der Sklavenhandel verboten wurde? Der britische Politiker William Wilberforce legte die geistigen Grundlagen dafür und für die spätere gänzliche Abschaffung des Verbrechens im Königreich, indem er sich selbst und dann der Gesellschaft seiner Zeit den Skandal der Sklaverei zu Bewusstsein brachte. In dieser ersten deutschsprachigen Biographie wird der lebenslange Kampf von Wilberforce für Menschenrechte eindrucksvoll geschildert. Bettina Klix

Biographie, Ü: Cristian Rendel, Verlag SCM Hänssler 2012, 24,85 €


Ulf Erdmann Ziegler: Nichts Weißes | Marleen ist eine erstaunliche junge Frau. Seit Kindertagen verfolgt sie eine Passion – die Liebe zur Typografie. Ihr Traum ist die perfekte Schrift. Wir lernen sie im Jahr 1984 kennen, als sie ihre Lehr- und Wanderjahre beginnt. Aus dem heimischen Niederrhein-Städtchen hinaus in die weite Welt der Schriftgestaltung. Zunächst in die Buchdruckstadt Nördlingen, dann an die Hochschule nach Kassel, später sind Paris und New York ihre weiteren Stationen. Sie ist begabt und findet Mentoren, die ihr Talent fördern. Dann schlägt das Schicksal zu: Kaum hat sie sich halbwegs beruflich etabliert, muss sie sich damit auseinandersetzen, vielleicht in einer Sackgasse gelandet zu sein – durch das heraufziehende Zeitalter des PCs, der Typografie zur Massenware macht, in Sekundenschnelle verfüg- und umsetzbar. Aber sie passt sich an. Der Leser erfährt zwar nicht, wie es ab den 90er Jahren mit dieser Heldin weitergeht. Doch diese kreative, zielstrebige und realistische Frau macht ganz bestimmt ihren Weg, wohin auch immer er führt. Viel Glück, Marleen! Tina Spessert

Roman, Suhrkamp 2012, 259 S., 19,95 €