Aufruhr vor zwei Jahren: Ein Parteibüro in Tunis wird besetzt

ver.di PUBLIK | Sie sind Generalsekretär der tunesischen Arbeiterpartei ("Parti des travailleurs tunisiens/PTT) und Pressesprecher des neugegründeten Parteienbündnisses Front Populaire. Was hat sich nach dem Aufstand am 14. Januar 2011 in Tunesien verändert?Hamma Hammami | Die Situation im Land. Früher konnten wir uns zu zweit oder in einer größeren Gruppe nicht mal in einem Café treffen, weil gleich ein Polizist dem Besitzer gedroht hätte, das Café werde geschlossen. Das galt für alle, die politisch aktiv waren. Ich war unter der Diktatur Ben Alis und seines Vorgängers Bourguiba zehn Jahre im Gefängnis und zehn Jahre im Untergrund. All das, Überwachung, Bedrohung, Repression, ist endlich vorbei. Es ist diese Freiheit, die wir gewonnen haben.

ver.di PUBLIK | Und was fehlt noch?Hammami | Die Demokratie bleibt eine Verheißung, denn wir haben noch keine Verfassung. Justiz, Polizei und Administration wurden bisher nicht reformiert, im sozialen und wirtschaftlichen Bereich hat sich nichts verändert. Von der Wirtschaft profitiert immer noch eine einheimische und ausländische Minderheit. Hinzu kommt, dass die Tunesier von undemokratischen Bewegungen wie den Salafisten bedroht sind.

ver.di PUBLIK | Sie haben mit linken Parteien das Bündnis Front Populaire gegründet, das inzwischen die dritte politische Kraft in Tunesien ist, hinter dem von der islamischen Ennahda angeführten Regierungsbündnis und dem von Beji Caid Essibsi geführten Parteienzusammenschluss Nidaa Tounes. Wofür steht der Front Populaire? Hammami | Unser Zusammenschluss ist nicht nur ein Bündnis der Linken. Es sind zwei linke Parteien darin, aber auch liberale Parteien, regionale Bewegungen und viele Unabhängige. Was uns eint, sind die Ziele.

ver.di PUBLIK | Welche sind das?Hammami | Wir wollen unsere nationale Wirtschaft stärken und sie unabhängiger vom Internationalen Währungsfonds, den Interessen multinationaler Konzerne, aber auch von Europa gestalten. Dann geht es um die Demokratisierung der Gesellschaft. Die Islamisten versuchen, uns einen Verfassungsentwurf aufzuzwingen, der nicht demokratisch ist, zumindest wollen sie ihn religiös. Wir aber kämpfen für einen republikanischen Verfassungsentwurf. Und wir wollen soziale Gerechtigkeit, denn dafür haben die Menschen im Land gestritten. Wir stehen für eine gerechtere Verteilung in der Gesellschaft, sodass auch Arbeiter von ihrem Lohn leben können. Andere Themen sind Umwelt und Bildung. Wir sind inzwischen die drittstärkste Partei in Tunesien. Und wir wachsen. Die regierende islamistische Ennahda hingegen verliert immer mehr an Zustimmung.

ver.di PUBLIK | Wie steht die Partei der Tunesischen Arbeiter zur Gewerkschaft UGTT?Hammami | Wir sind sehr stark in den Gewerkschaften vertreten.

ver.di PUBLIK | Die regierende Ennahda behauptet, Ihre Partei wolle den bewaffneten Kampf. Hammami | Schon unter Ben Ali hat man uns als Aufrührer beschuldigt. Aber mit gewaltsamen Ausschreitungen haben und hatten wir nichts zu tun. Wir haben nie Gewalt ausgeübt, im Gegensatz zu den Kadern von Ennahda, die Unruhen geschürt haben, zuletzt auf Djerba und in Tataouin. Wir fordern einen nationalen Rat gegen die wachsende Gewalt.

ver.di PUBLIK | Im Dezember hat die Regierung ihr Wirtschafts- und Finanzprogramm für das Jahr 2013 im Parlament vorgestellt. Enthält es Ansätze, um die ökonomische und soziale Krise einzudämmern? Hammami | Die wirtschaftliche Situation ist katastrophal. Die Ökonomie unter Ben Ali war die Ökonomie seiner Familie. Die Früchte der Arbeit haben wenige geerntet. Das führte zu Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichgewicht zwischen den Regionen. Die regierende Ennahda hat nichts verändert, sondern alles beim Alten gelassen. Vielleicht bekommen wir aber eine neue Etappe der Revolution, und diese Etappe wird sozial sein.

ver.di PUBLIK | Welche Rolle spielte die islamische Ennahda, die sich heute als legitime "Erbin der Revolution" sieht, am 14. Januar 2011?Hammami | Es ist eine konservative Partei, die kein revolutionäres Programm hat. Als die Leute auf die Straße gingen, war Ennahda nicht dabei. Ich kenne viele Verantwortliche der Partei, die sich rausgehalten haben. Sie haben von den Protesten profitiert, aber alle in Tunesien wissen, dass die Islamisten beim Sturz der Diktatur keine Rolle gespielt haben.

ver.di PUBLIK | Was treibt Sie selbst zu Ihrem Jahrzehnte dauernden Einsatz?Hammami | Für mich gab es ein Schlüsselerlebnis, um gegen die Diktatur zu kämpfen: Ich war ungefähr 15, als ich in einer Kooperative arbeitete. Damals habe ich am eigenen Leib erfahren, was Ausbeutung ist. Wir haben fast den ganzen Monat gearbeitet und nur für drei Tage Geld erhalten. Wir lebten in totaler Armut. Damals habe ich gelernt, dass Ausbeutung nicht vom Himmel fällt. Ein zweites Erlebnis hatte ich im Gefängnis während der Studentenunruhen 1972. Ich wurde eingesperrt, weil wir eine demokratische studentische Vertretung gefordert hatten, und gefoltert. Da habe ich verstanden, dass die Würde des Einzelnen bei uns nicht zählt. Ich fing an, Fragen zu stellen: über Diktatur, Ausbeutung, Repression. Mir wurde klar, dass man für seine Würde kämpfen muss.

INTERVIEW: Edith Kresta und Renate Fisseler-Skandrani


Hamma Hammami

1952 im tunesischen El Aroussal geboren, ist Generalsekretär der bis zur Revolution verbotenen kommunistischen Partei der tunesischen Arbeiter („Parti communiste des ouvriers tunisiens“ POCT), 2012 umbenannt in „Tunesische Arbeiterpartei“ („Parti des travailleurs tunisiennes“ PTT).

Er ist Pressesprecher des kürzlich gegründeten Parteienbündnisses „Front Populaire“. Während des Studiums der arabischen Literatur wurde er 1972 erstmals inhaftiert, zu acht Jahren Haft verurteilt und auf Intervention von Amnesty International nach sechs Jahren freigelassen. Auch unter der Diktatur Ben Alis wurde er verfolgt. Am 12. Januar 2011 wurde er erneut verhaftet. Seine Befreiung erlebte er am 14. Januar 2011.

"Vielleicht bekommen wir eine neue Etappe der Revolution, und diese Etappe wird sozial sein."