Ausgabe 02/2013
"Das Pendel schlägt in die andere Richtung"
Direktor Luciano Sanín; das Innere der Gewerkschaftsschule ist nur durch eine Panzertür erreichbar
Nach langen Jahren der Verfolgung und des Niedergangs haben Kolumbiens Gewerkschaften erstmals wieder Zuwächse zu verzeichnen. Das ist auch ein Erfolg der nationalen Gewerkschaftsschule Escuela Nacional Sindical in Medellín. Dort bilden sich die erfolgreichen Gewerkschafter/innen von heute fort.
von Knut Henkel (Text) und Juan Manuel Barrero (Fotos)
Blick von der Gewerkschaftsschule auf Medellín
"Unter leitenden Angestellten heißt es, dass die Gründung einer Gewerkschaft der erste Schritt zum Untergang des Unternehmens ist", sagt Igor Díaz*. "In der Realität sieht das aber anders aus. Das zeigt auch unser Beispiel von Sintracarbón", fährt der Vorsitzende der Gewerkschaft der Kohlearbeiter fort und deutet auf die mit einem Beamer an die Wand geworfene Statistik. Sie zeigt, wie profitabel die Mine Cerrejón ist, die größte Kohlemine Kolumbiens. Trotz der Präsenz der organisierten Arbeiter.
Den Gewerkschaftern fällt es immer wieder schwer, dem Konsortium aus drei internationalen Bergbaukonzernen Lohnerhöhungen abzuringen. Zuletzt gelang das im Februar 2011. Damals sind die Kollegen von Díaz beinahe in den Ausstand getreten. "Unsere entschiedene Haltung und die Vermittlung der Politik haben den Arbeitskampf letztlich verhindert", erklärt der breitschultrige Gewerkschafter. Er hat früher selbst riesige Trucks durch die Kohlemine gelenkt. Mit einem zufriedenen Lächeln blickt er in die Gesichter seiner Zuhörer.
Die Runde aus rund zwei Dutzend Männer und Frauen hat sich während seines Vortrags fleißig Notizen gemacht. Auch Luz Marina Díaz Jiménez. Sie gehört zu den Jüngeren in dem hellen Seminarraum der Escuela Nacional Sindical (ENS), der Gewerkschaftsschule von Medellín. Die Vorsitzende der Betriebsgewerkschaft der Supermarktkette Carrefour ist beeindruckt von Igor Díaz. Anerkennend zieht sie die Augenbrauen hoch, als er den Tarifabschluss über 6,5 Prozent bei zweijähriger Laufzeit am Ende erwähnt. "Aus Erfahrungen wie dieser können wir bei Carrefour lernen. Wir stehen schließlich noch am Anfang, sind eine sehr junge Gewerkschaft", sagt die 36-Jährige aus der Nähe von Cali, im Süden Kolumbiens. Sie ist nach Medellín gekommen, um sich weiterzubilden und beraten zu lassen.
Igor Díaz, Gewerkschaftsvorsitzender und in Lebensgefahr
Gewerkschaftsgründung mit hohen Hürden
"Schon die Gründung unserer Gewerkschaft war alles andere als leicht. Ohne die Hilfe der ENS wären wir heute vielleicht immer noch nicht weiter", sagt Luz Marina Díaz Jiménez und lacht bitter. Mit Druck und vielfältigen Schikanen bis hin zu Entlassungen von Aktivisten hat die weltweit zweitgrößte Supermarktkette die Gründung einer Betriebsgewerkschaft zu unterlaufen versucht. Erst als sich die UNI, die Internationale Dienstleistungsgewerkschaft, einschaltete, begann sich Management von Carrefour zu bewegen. "Die Basis war das internationale Abkommen zwischen der UNI Global Union und Carrefour. Dessen Umsetzung haben wir schließlich für Kolumbien eingefordert", schildert die kleine Frau mit dem runden Gesicht das Vorgehen der Angestellten.
Der Tipp, die UNI einzuschalten, kam damals vom Direktor der Gewerkschaftsschule, Luciano Sanín, erzählt Luz Marina Díaz Jiménez. Sie selbst stammt aus einfachen Verhältnissen, ihr Vater war Zuckerrohrschnitter und sie das fünfte von sechs Kindern. Und sie hat frühzeitig gelernt, sich einzusetzen. "Papa hat sich immer für die Gemeinschaft und die Interessen der Arbeiter eingesetzt. Dieses Gen habe ich geerbt", erklärt sie und lacht ihr optimistisches Lachen. Nicht zuletzt ihr stetes Engagement hat sie an die Spitze der Gewerkschaft gebracht, die derzeit 3700 Mitglieder unter den insgesamt 10.400 Carrefour-Mitarbeitern in Kolumbien hat.
In jedem der gut 70 Supermärkte, die die Kette landesweit betreibt, ist die Gewerkschaft seit dem 2. November 2011 vertreten. "An diesem Tag haben wir uns gegründet und sind noch dabei, eine tragfähige Struktur aufzubauen", sagt sie und packt das Notizheft, die beiden Mobiltelefone und das Notebook zusammen. Unterstützung holt sie sich dabei von der Gewerkschaftsschule. Zu deren Angebot gehören nicht nur die regelmäßig stattfindenden Seminare für leitende Gewerkschafter/innen, sondern auch die sachkundige Analyse von Tarifverträgen, Beratung und Coaching. "Das war und ist unglaublich wichtig. Erst in den Kursen der ENS haben wir gelernt, wie organisatorische Arbeit funktioniert", sagt sie, blickt zur Uhr und greift sich ihre Umhängetasche.
Oben: Luz Marina Díaz, Vorsitzende der Betriebsgewerkschaft bei Carrefour Unten: Teilnehmer/innen an einem Seminar in der ENS
Durch die gepanzerte Eingangstür
Es ist Mittagspause, und die nutzt Luz Marina Díaz Jiménez, um den Kontakt zu den Kolleg/innen zu pflegen. Schnell läuft sie die drei Treppen vom Seminarraum nach unten ins Erdgeschoss, passiert die gepanzerte Eingangstür der Schule, geht die paar Schritte durch die kleine Fußgängerzone zur nächsten Straße und winkt ein knallgelbes Taxi heran. "Carrefour, Las Vegas", sagt sie dem Fahrer und lässt sich in den Rücksitz fallen. Der Supermarkt im Stadtteil Envigado ist der größte Medellíns. 180 Menschen arbeiten unter dem Carrefour Logo, neben dem in dicken Lettern das Wort chevére, zu deutsch so viel wie toll, an der Fassade prangt. Dort arbeitet auch ihre gute Freundin Nora Suárez Gallego.
Die 31-Jährige in der grün-blauen Carrefour-Uniform ist gerade vom Auffüllen eines Kühlregals in den Pausenraum gekommen. Herzlich begrüßt sie ihre Kollegin aus der Gewerkschaftsleitung. Nora Suárez Gallego ist eine zierliche Frau mit glatten, schwarzen Haaren; sie ist die Jugendbeauftragte der Gewerkschaft. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Juan Restrepo engagiert sie sich in der ständigen Kommission. Deren Aufgabe ist es, Probleme und Missstände mit der Konzernleitung zu besprechen, abzubauen und den Kontakt zu halten. Eine Besonderheit in Kolumbien, denn normalerweise treffen Management und Gewerkschaft nur bei Tarifverhandlungen aufeinander. Aber es ist ein erfolgreiches Instrument, wie Juan Restrepo erklärt. "So haben wir erreicht, dass Carrefour heute einen Zuschlag zum Essen der Angestellten zahlt. Ganz allgemein haben wir das Gefühl, nicht mehr permanent von Entlassung bedroht zu sein. Unser Arbeitsverhältnis ist sicherer als früher."
"Wesentlich für den Stimmungswandel in der Belegschaft ist die Tatsache, dass in jeder Carrefour-Filiale ein Ansprechpartner der Gewerkschaft arbeitet", sagt Luz Marina Díaz. Ebenfalls ein Novum in Kolumbien, denn die Supermarktkette hat dem Abkommen 135 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zugestimmt, obwohl es von der Regierung in Bogotá nicht unterzeichnet wurde. Ein Sonderfall und auch ein Verhandlungserfolg, den die Gewerkschaftsvorsitzende auf die gute Beratung durch die ENS zurückführt. Auch deshalb gehört der regelmäßige Austausch mit Direktor Luciano Sanín und anderen ENS-Experten inzwischen zu ihrem Alltag.
Dennoch bleibt noch viel zu tun. Das zeigt auch der Überraschungsbesuch von Luz Marina Díaz. Zwar wird sie von der Leitung der Filiale freundlich begrüßt, doch die Erlaubnis, mit zwei organisierten Kollegen durch die Filiale zu gehen, um Fotos zu machen, erhält sie dann doch nicht. "Da müsse die Zentrale zustimmen", heißt es lapidar. Mehr als ein paar Aufnahmen vor dem Supermarkt unter dem Werbeslogan "chevére" sind nicht drin.
Gewerkschaften im Aufwind
Für Schulleiter Sanín keine echte Überraschung. "Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist in Kolumbien eher die Ausnahme als die Regel. Das muss sich erst entwickeln", sagt der 54-Jährige. Verfolgung und Diffamierung der Gewerkschaften gehören nicht nur in Medellín zum Alltag. Nicht ohne Grund schützt eine kameraüberwachte Panzertür den Eingang zur ENS. Dort ist inzwischen auch Luz Marina Dìaz wieder eingetroffen. Ihr bleiben noch ein paar Minuten für einen Kaffee am Konferenztisch im Innenhof zwischen den beiden Schulgebäuden.
Beschäftigte von Carrefour: "Toll" steht über ihnen, toll ist auch, dass sie sich gewerkschaftlich organisieren dürfen
Während im vorderen Teil unterrichtet und geforscht wird, sind im hinteren Teil Bibliothek und Verwaltung untergebracht. Auch Luciano Sanín hat dort sein Büro. Der schlaksige Mann mit dem sorgsam zurückgekämmten graumelierten Haarschopf hat einiges beigetragen zum zar- ten Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung in Kolumbien. Erfolge wie das Übereinkommen bei Argos, dem größten Zementhersteller Kolumbiens, sind genauso mit seinem Namen verbunden wie die Gründung der Carrefour-Gewerkschaft.
Derzeit begleitet Sanín die Verhandlungen mit den Stadtverwaltungen von Medellín und Bogotá, um Arbeitskonflikte beizulegen und Tarifverträge auszuhandeln. Erfolge, die zum leichten Anstieg bei den Mitgliederzahlen der Gewerkschaften beitragen. "Das Pendel schlägt in die andere Richtung. Wir werden dank der internationalen Unterstützung weniger stark verfolgt und können neue Initiativen lancieren", sagt Sanín und rührt seinen Kaffee um. Dann klingelt das Mobiltelefon. Sanín drückt das Gespräch weg und schaut Luz Marina Díaz über die Schulter, die gerade ihre Aufzeichnungen überfliegt. Die bilden die Basis für den Vortrag, den sie gleich drei Stockwerke höher im Seminarraum über Carrefour halten wird. Von erfolgreichen Beispielen gewerkschaftlicher Organisationsarbeit lässt sich am besten lernen, ist Sanín überzeugt. Eine Einschätzung, die auch Luz Marina Díaz teilt. Doch nun ist sie selber dran. Sie packt ihre Unterlagen zusammen, verabschiedet sich und winkt schon in Richtung Seminarraum.
* Seit Januar dieses Jahres erhält Igor Díaz Morddrohungen, und auch seine Familie wird durch Anrufe auf ihren Mobiltelefonen bedroht. Amnesty International hat eine Urgent Action gestartet:
www.amnesty.de/urgent-action/ua-012-2013/gewerkschafter-bedroht
Kolumbiens Gewerkschaftsbewegung
Anders als in Deutschland gibt es in Kolumbien drei große Dachverbände. Neben der CUT, dem mit rund 600.000 Mitgliedern größten Verband, sind es die CGT mit gut 200.000 organisierten Arbeiter/innen und die CTC mit rund 50.000. Insgesamt ist der Organisationsgrad in Kolumbien auf rund vier Prozent abgesunken. Jahrzehntelange Verfolgung und die Ermordung von laut Amnesty International mehr als 2000 organisierten Arbeitern in den letzten beiden Jahr- zehnten haben merklich zum Mitgliederschwund beigetragen. Doch in den letzten beiden Jahren hat sich die Gewerkschaftsbewegung ein wenig erholt. Dabei dienten internationale Abkommen als Türöffner. Carrefour ist ein Beispiel, eine große Sicherheitsfirma könnte alsbald folgen, und auch mit Kimberly Clark, Ripley und Zara ist die ENS im Gespräch. Die Gewerkschaftsschule wird auf Initiative des ver.di- Gewerkschaftsrats auch von ver.di regelmäßig unterstützt.