"Formulierungshilfen" für Abgeordnete: Eine neue Internetplattform deckt auf, wie EU-Parlamentarier aus Lobbyisten-Papieren abschreiben

Brüten in Brüssel. Wer will hier was durchsetzen? Papiere werden hin- und hergewendet

Noch immer ist Richard Gutjahr verblüfft über die Reaktionen auf sein Projekt: "Eigentlich fallen bei den Abgeordneten nur zwei Sätze: Das machen alle so. Und: Es ist nicht verboten."

Das, worum es geht, könnte die wissenschaftliche Karriere von Doktoranden oder Wissenschaftlern beenden, bevor sie begonnen hat. Bei den EU-Abgeordneten aber scheint es zum normalen Arbeitsverständnis zu gehören - und bleibt folgenlos: Sie übernehmen bisweilen ganze Passagen in Gesetze und Anträge, die von Lobbyisten aus Wirtschaft und Verbänden verfasst wurden.

Texte von Ebay und Amazon

Wie viele Lobbyisten es genau in Brüssel gibt, weiß niemand, weil ein verbindliches Lobbyistenregister noch fehlt. Mindestens 15.000, schätzen Experten. Sie vertreten die Interessen von Wirtschaftsunternehmen, Verbraucherorganisationen oder Interessenverbänden; ihr Job ist es, diese Interessen in den politischen Prozess einzubringen und im besten Falle sogar Gesetzgebungsverfahren zu beeinflussen. Die Lobbyisten haben Informationen, Argumentationshilfen und Formulierungsvorschläge im Gepäck.

Dass sie die auch gut unterbringen, ist ein offenes Geheimnis, wurde bislang aber kaum wirklich sichtbar. Gutjahr, freier Journalist aus München, will das ändern. Gemeinsam mit Kolleg/innen rief er die Plattform LobbyPlag ins Leben. Dort werden zurzeit Dokumente zur geplanten EU-Datenschutzverordnung nebeneinander gestellt: der Entwurf der EU-Kommission, Änderungsvorschläge von Parlamentariern, Beschlüsse der Ausschüsse und eben auch Papiere von Lobbyisten, die Gutjahrs Team zugespielt wurden. Schnell wird klar: Die Politiker greifen nur zu gern auf die "Formulierungshilfen" der Vertreter von Unternehmen und Organisationen zurück, vor allem, wenn es um das umstrittene Thema Datenschutzverordnung geht. Denn das Thema ist wichtig: Seit 2009 arbeitet die EU an einer Neuordnung, die die Speicherung privater Daten und Sanktionen bei Verstößen regeln soll.

Wie sehr die EU-Parlamentarier in diesem Prozess auf die Interessengruppen hören, macht LobbyPlag sichtbar. In den Papieren der Abgeordneten tauchen sowohl Formulierungen aus Unterlagen von Amazon und Ebay als auch von Datenschutzaktivisten auf. Manchmal sind die übernommenen Stellen kurz, dann wieder sind es ganze Absätze. So wies LobbyPlag nach, dass Amelia Andersdotter, eine schwedische EU-Abgeordnete der Piraten, den kompletten Katalog an Änderungswünschen der European Digital Rights Initiative in ihre Anträge kopierte. Im Gespräch mit Gutjahr reagierte die Politikerin empört. Im Grunde sei es vollkommen irrelevant, woher die Formulierungen stammten, so lange es um die richtigen Werte gehe, erklärte sie. Gutjahr sieht das anders. Er und seine Mitstreiter/innen wollen den Lobbyismus nicht per se verdammen. "Aber wenn wir von Schülern und Studenten Transparenz verlangen, dann muss das für alle gelten." Die EU-Datenschutzverordnung werde "die Spielregeln im Internet für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre regeln, sie betrifft 500 Millionen Menschen". Hier müsse Klarheit darüber herrschen, wer was ins Gesetz geschrieben habe. Er ist schockiert über das Selbstverständnis der Parlamentarier, nicht zu hinterfragen, was ihnen da von anderer Seite ins Gesetz diktiert wird.

Nicht alle Änderungswünsche der Lobbyisten sind leicht zu erkennen. Häufig lasse sich ihr Einfluss auch daran erkennen, was gerade nicht im Entwurf lande, sagt Gutjahr. So macht der Journalist kenntlich, dass sich der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger darum bemüht, aus der Datenschutzverordnung den bislang vorgesehenen Schutz von personenbezogenen Daten von Kindern zu entfernen. "Wir haben schnell ge- sehen", so Gutjahr, "dass sich Beeinflussung von Abgeordneten nicht allein durch das Abgleichen von Copy & Paste-Textstellen nachweisen lässt, sondern auch durch Streichungen oder Umformulierungen stattfindet." Es ist deshalb das Ziel von LobbyPlag, die besonders hart umkämpften Bereiche im Gesetzentwurf kenntlich zu machen. "Das sind dann auf 120 oder 140 Seiten vielleicht sieben oder acht Stellen, die als entscheidend gelten können. Da lohnt es sich besonders, in die Tiefe zu gehen."

Abgeordnete als Marionetten

LobbyPlag habe keine lange Vorlaufzeit gehabt, berichtet Gutjahr. Den Tipp dazu habe er von Max Schrems bekommen: Der Student aus Österreich kämpft seit Jahren gegen die Datenschutzpolitik von Facebook und hat sich deshalb auch intensiv mit den europäischen Datenschutzgesetzen beschäftigt. "Er hatte sich die Unterlagen nur eines Ausschusses angesehen und gleich viele Übernahmen entdeckt. Damit stellte sich für mich die Frage, ob das nur die Spitze des Eisbergs sein könnte." An einem Wochenende habe er mit einem Kollegen ein Tool entwickelt, um Lobbypapiere und Gesetzestexte vergleichen zu können, dann sei man mit dem Projekt an die Öffentlichkeit gegangen.

Dass die Abgeordneten nun wüssten, dass man ihnen auf die Finger schaue und sie nötigenfalls als Marionetten entlarve, sei ein Erfolg, finden die LobbyPlag-Initiatoren. Die farbig markierten Fundstellen auf ihrer Website sprechen eine deutliche Sprache - auch wenn EU-Kommissarin Neelie Kroes den zu großen Einfluss von Lobbyisten auf die EU-Gesetzgebung bestreitet. Ihr jedenfalls sage kein Lobbyist, was zu tun sei, twitterte die Politikerin gerade erst. Auch der FDP-Abgeordnete Alexander Alvaro zeigte sich erbost darüber, dass LobbyPlag zunächst hauptsächlich nachgewiesen habe, wo Parlamentarier aus Papieren von Unternehmen abgeschrieben hätten und diese so als "Spielball der Industrie" dargestellt habe. LobbyPlag, so die Initiatoren, bemüht sich um Ausgewogenheit. Welche Unterlagen man prüfen könne, hänge aber auch davon ab, welche Papiere der Initiative zugespielt würden.

Richard Gutjahr ist froh über die Aufmerksamkeit, die das Projekt seit dem Start Mitte Februar bekommt. Stolz erzählt er, dass eine amerikanische Stiftung Kontakt zu LobbyPlag aufgenommen hat. "Wir sind Gesprächsthema, sogar in Washington, das zieht wirklich Kreise."

Auch in Deutschland wird die Arbeit von LobbyPlag mit Interesse verfolgt. Hier sammelt die Initiative LobbyControl Informationen über Einflüsse auf Politik und Abgeordnete. Timo Lange aus dem Berliner Büro der Initiative glaubt, dass LobbyPlag auch für seine Arbeit hilfreich ist, um deutlich zu machen, "wer in welchem Ausmaß und mit welcher finanziellen Ausstattung auf Themen Einfluss nimmt". Bislang sei das für die Zivilgesellschaft nur schlecht erkennbar, das aber schade der Demokratie und berge die Gefahr manipulativer Einflussnahme.

Dass diese Form der Einflüsterei vor allem in Brüssel so gut funktioniere, liege daran, dass es im EU-Parlament keinen so starken Gegensatz von Regierung und Opposition und damit eine weniger starke parlamentarische Kontrolle durch die Opposition gebe. Außerdem verfüge das Parlament nicht über große Ressourcen wissenschaftlicher Epxertise. Und: "Es gibt keine sonderlich stark ausgeprägte europäische Öffentlichkeit, die nach Brüssel schaut und verfolgt, was dort genau gemacht wird. Das könnte sich mit LobbyPlag allerdings ändern.

LobbyPlag im Netz

www.lobbyplag.eu

Mitmachen: Wer helfen will, Texte von EU-Abgeordenten zu überprüfen, kann sich auf der Website einzelne Dokumente oder die ganze Sammlung herunterladen. Wer in den Anträgen der Abgeordneten Übereinstimmungen mit Lobby-Papieren findet, schreibt an: report@lobbyplag.eu

Unterstützen: Für ihre Arbeit brauchen die LobbyPlag-Macher finanzielle Unterstützung und sammeln Spenden. Bislang sind rund 8000 Euro zusammengekommen.