Ausgabe 02/2013
Hier geht es um die Wählerstimmen
Wolfgang Uellenberg-van Dawen leitet den Bereich Politik und Planung beim ver.di-Bundesvorstand
Wir reiben uns die Augen - wo gestern noch der Weltuntergang befürchtet, Massenarbeitslosigkeit prophezeit, der Zusammenbruch des Kleinunternehmertums herbeigeredet und die Fahne der Tarifautonomie hochgehalten wurde, wird jetzt über die Lohnuntergrenze ernsthaft diskutiert. Im Brustton der Überzeugung verkünden in diesen Tagen Konservative, Neoliberale oder besorgte Christlich-Soziale, dass Menschen vom Lohn ihrer Arbeit anständig leben müssen. Richtig! Endlich haben es auch die gemerkt, die über Jahre dem Volk eingetrichtert haben: Jede Arbeit ist besser als keine. Auch wenn der oder die Vollzeitbeschäftigte sich nach getaner Arbeit auf den Weg zum Sozialamt machen und Hartz IV beantragen muss, weil das Geld vorne und hinten nicht zum Leben reicht. Welch ein Sinneswandel!
Aber was ist gemeint, wenn Union und mittlerweile sogar die FDP fordern, dass statt eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns nun Lohnuntergrenzen in jenen Branchen und Regionen festgelegt werden sollen, in denen keine Tariflöhne existieren? Auch manche Befürworter des gesetzlichen Mindestlohnes fragen sich: Ist das nun besser als nichts? Lohnuntergrenze klingt erst einmal gut. Aber was ist "unten"? Im Verständnis von Union und Liberalen heißt das: unterhalb des für verwandte Branchen geltenden Lohns - etwa unterhalb von 4,50 Euro gemäß dem Tarifvertrag Rettungsdienst Ost oder 3,50 bei Friseur/innen Ost oder 6,50 Euro für Werkvertragstätigkeit im Handel. Oder? Nicht überall, wo Tarifvertrag drauf steht, ist ein guter Lohn drin: Das gilt für die sogenannten christ- lichen und gelben Gewerkschaften allemal, und auch bei ver.di sind nicht alle Tarifverträge in allen Branchen klasse - wegen Mangels an Masse. Auf gut Deutsch: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist dort zu gering, als dass ver.di mehr durchsetzen könnte.
Fakt ist: Für jeden fünften Beschäftigten bringt ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde eine Lohnerhöhung. Bei gut 2,5 Millionen Beschäftigten lag der Stundenlohn 2010 unter 6 Euro, davon waren knapp 800.000 in Vollzeit beschäftigt. Weniger als 5 Euro pro Stunde erhielten rund 1,4 Millionen Beschäftigte. Vor allem Ostdeutsche, Frauen und Minijobber/innen waren von derart niedrigen Entlohnungen betroffen. Profitieren würden von einem Mindestlohn auch die öffentlichen Kassen. Sie stocken niedrige Entgelte auf. Damit müssen sie flächendeckendes Lohndumping unterstützen. Darum führt kein Weg an den 8,50 Euro vorbei - und das muss schnell mehr werden.
Der Mindestlohn muss für alle gelten und für das ganze Land. Regionale Differenzierung und Tarifautonomie gegen den Einheitslohn - wer hätte etwas dagegen, wenn es denn wirklich eine funktionierende Tarifautonomie flächendeckend gäbe? Aber davon ist Deutschland weit, weit entfernt: Austritte über Austritte aus den Arbeitgeberverbänden und damit Flucht aus der Tarifbindung, Tariföffnungsklauseln, Abweichungen von Tariföffnungsklauseln, Bezahlung in Anlehnung an Tarife, gar keine Tarifautonomie für die Beschäftigten in kirchlichen Wohlfahrtsverbänden, aus dem europäischen Ausland entsandte Beschäftigte vor allem bei den Dienstleistungen. Wo greift noch ein fair ausgehandelter Tarifvertrag und wo endet faktisch die Bindewirkung? Wo würde denn eine Lohnuntergrenze beginnen, und wo beginnt dann ein Tarifvertrag? Und wer soll wie das Ganze kontrollieren? Fragezeichen, lauter Fragezeichen.
Sowohl CDU/CSU als auch die FDP wollen, wenn überhaupt, den Mindestlohn in Kommissionen ohne großen staatlichen Einfluss festsetzen lassen, also von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern. Doch warum soll hier funktionieren, was in den Branchen, in denen keine oder zu geringe Tariflöhne gezahlt werden, bislang nicht geklappt hat?
Fazit: Viele offene Fragen, viele Nebelkerzen, wenig Konkretes. Und das soll es ja auch sein: Man signalisiert Bewegung und bewegt sich nicht. Die Klardenkende merkt die Absicht - und ist verstimmt. Geht es um soziale Gerechtigkeit? Um gute Löhne für gute Leute, gute Arbeit, ein gutes Leben oder um Wählerstimmen? Um Letzteres wohl. Wer den Mindestlohn will, muss dafür eintreten: für den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, vorgeschlagen von einer Kommission aus Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Wissenschaft. Verbindlich für das ganze Land festgelegt von der Bundesregierung, wirksam kontrolliert vom Staat und einklagbar durch jeden und jede. Damit mit Billiglohn Schluss ist.
Lohnuntergrenze klingt erst einmal gut. Aber was ist "unten"? Viele offene Fragen, viele Nebelkerzen, wenig Konkretes. Man signalisiert Bewegung und bewegt sich nicht.