Tuomas Kyrö: Bettler und Hase | Was ist das nur für ein komisches Land? Und warum haben die Menschen so seltsame Namen wie Sanna Pommakka oder Jeesus Mähönen? Fragen, die sich dem Rumänen Vatanescu aufdrängen, nachdem er in Finnland angekommen ist. Das Geldverdienen stellt er sich dort ganz einfach vor: faire Löhne, nette Leute, sichere Arbeitsbedingungen – Europa eben. Doch schon kurz nach seiner Ankunft landet die Hauptfigur von Tuomas Kyrös Roman in der marktwirtschaftlichen Realität: „An seinem ersten Arbeitstag als Bettler verdiente er fünf Euro und achtzig Cent, ein Spielzeugauto und vier Zigarettenstummel. Als Zulage gab es eine Erkältung, Hunger und Gelenkversteifung.“ Doch der Rumäne gibt nicht auf. Er schuftet zu Dumpinglöhnen für ausbeuterische Unternehmer und freundet sich mit einem Kaninchen an. Als er genug Geld gespart hat, um seinem Sohn ein Paar Fußball-Stollenschuhe kaufen zu können, wirft ihn ein Sicherheitsmann aus dem Laden. Vatanescu lernt: „Schuhe haben nicht nur einen Verkaufspreis, sondern auch ein Kaufgesicht.“ Also passt er sich an, achtet auf seine Kleidung und steigt auf zum Lkw-Fahrer. Die Finnen und ihre Arbeitswelt versteht er allerdings nach wie vor nicht. Einmal schießt ein betrunkener, nackter Mann auf Vatanescu, weil er in dessen Garten Beeren pflückt. Kurz darauf sitzen die beiden einträchtig in einer Sauna. Tuomas Kyrö schildert in dieser grandiosen Sozialsatire Situationen dieser Art so liebevoll und ironisch, dass man lacht und mitfühlt. Bettler und Hase wirkt doppelbödig, wie ein Klamauk, hinter dem eine Sozialsatire steckt. In Kyrös Heimat war dieses Buch ein Nr. 1-Bestseller – wohl auch, weil der 42-jährige Autor ein schräger Philosoph ist. „Er legte sich hin, konnte jedoch nicht schlafen, sondern wartete auf den Morgen. Und der Tag wartete auf ihn. Tage sind so. Sie brechen an, und wir wissen nicht, was wir von ihnen bekommen werden. Oder was wir ihnen abnehmen dürfen“, schreibt Kyrö, ein Meister des geistreichen Nonsens. Den Roadtrip Vatanescus verliert er dabei nicht aus den Augen und macht den Rumänen zu einem neuen Forrest Gump. Bettler und Hase ist ein modernes Märchen, in dem integrierte Vietnamesen auf kriminelle Ukrainer treffen, Kaninchen auf Rentiere, Gauner auf Gutmütige. Der ungewöhnliche Roman zeigt: Europa von unten. Günter KeilROMAN, VERLAG HOFFMANN UND CAMPE 2013, ÜBERSETZT VON STEFAN MOSTER, 318 S., 19,99 €


Wolfgang Bittner: Hellers allmähliche Heimkehr | Wenn in diesen Tagen der Prozess gegen das Terrornetzwerk NSU beginnt, wird erneut nicht nur das Entsetzen über die rassistischen Morde, sondern auch über nicht für möglich gehaltenes Behördenversagen herrschen - zweifellos ein Stoff für Schriftsteller, Journalisten, Drehbuchautoren. Der lebenslang (gewerkschafts-)politisch engagierte Romancier Wolfgang Bittner hat sich dem Thema auf erstaunlich spannende Weise genähert, indem er den Journalisten Heller als Chefredakteur der Lokalzeitung in seinen Heimatort zurückkehren lässt, wo der auf eine offensichtlich von der Polizei und örtlichen Unternehmern gedeckte militante Neonaziszene trifft. Heller ist kein Held, noch nicht einmal unmittelbar sympathisch - genau so aber, wie er sich "allmählich" alten Freunden und der korrupten Elite des Ortes nähert, freundet sich die Leserin mit ihm an, nimmt ihm seine Integrität, seinen Mut und seine Wut ab und ängstigt sich mit ihm vor zunehmender Bedrohung. Bittner will aufklären, warnen, für aufrechten Gang werben. Trotzdem belehrt er nicht, verpackt Fakten in unterhaltsame Dialoge, schreibt schnörkellos, flicht eine schöne Liebesgeschichte ein. Ohne die NSU-Morde hätte man ihm zweifellos eine zu blühende Phantasie vorgeworfen. So aber ist sein Roman ein literarischer Kommentar zum bösen Zeitgeschehen, wie er leider zu selten geschrieben wird. Ulla Lessmann

VAT VERLAG ANDRÉ THIELE, 241 S., 19,90 €


Christa Wolf: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert | Die Zeit läuft, ob man sie daran hindern will oder nicht. Zerlegt Leben in einzelne Momente, in Handlungen und Innehalten. Festhalten lässt sich nichts, aufschreiben längst nicht alles. Christa Wolf hat es versucht, wie viele Menschen, die Tagebuch führen. Sie tat es professionell und konsequent: Seit 1960 beschrieb sie jeweils einen Tag im Jahr, immer den 27. September. Ursprünglich folgte sie damit einem Aufruf der sowjetischen Zeitschrift Iswestija, dann ließ dieses Projekt sie nicht mehr los. Sie beschrieb präzise und offen, ohne schönzufärben oder Wichtiges extra auf dieses Datum zu legen. Normale Tage; frühstücken, Zeitung lesen, Wäsche waschen. Schreiben, feiern, fernsehen, nachdenken, schlafen, tausend Handgriffe und Gespräche. Jetzt, nach Wolfs Tod, sind die letzten "Tage des Jahres" erschienen, aus den Jahren 2001 bis 2011. Immer mehr schieben sich Krankheiten und Schwäche in den Vordergrund, brauchen Raum neben der Familie, dem Schreiben, der Politik und der Welt. Präzise und schonungslos bleiben die Aufzeichnungen bis zum Schluss. Es wird nichts mehr folgen. Claudia von Zglinicki

SUHRKAMP, 162 SEITEN, 17,95 €


Mo & Sue Twin: Lupus-Ankunft der Wölfe | "Alles, was denkbar ist, ist machbar", sagte Sokrates. Die unter Pseudonym schreibenden Zwillinge stellen diese Weisheit mit Bedacht ihrem Mystery-Thriller voran, der 2025 in Berlin und Colorado spielt. Die Zutaten für den Medizin-Schocker: Genmanipulierte Menschen, die zu Chimären - Mensch-Tier-Wesen - mutieren, durch Viren aus Gentechnik-Laboren ausgelöste Grippe-Pandemien, denen Millionen zum Opfer fallen, Indianer-Mädchen, die Coyotenbabies gebären, ein Schamane als Amokschütze, ein Serienmörder, der seine Opfer wie ein Wolf reißt. Das Szenario ist - siehe Sokrates - nicht nur Science Fiction: Der Deutsche Ethikrat beschäftigte sich im vergangenen Jahr mit der Schaffung von Mensch-Tier-Mischwesen innerhalb und außerhalb der Gebärmutter. Der Plot ist spannend und raffiniert aufgebaut, wartet mit angemessen unheimlichen und grausamen Szenen auf, läuft auf einen klassischen, actionreichen Showdown zu - und schürt durchaus reale Ängste. Man braucht kein Medizinstudium, um zu verstehen, was vor sich geht. Der reiche, schöne Ermittler Alexander Cube, der als einsamer Wolf (!) grauenvollen medizinischen Experimenten skrupelloser Ärzte auf die Spur kommt, ist eine gute Identifikationsfigur. Dass Cubes Spurensuche ihm auch noch eine Liebesgeschichte mit der schönen Rechtsmedizinerin Eva Palmer beschert, mit der er Todesgefahren nur knapp überlebt, bedient das Genre vorbildlich und nicht ironiefrei: Die Tochter eines Schönheitschirurgen weigert sich, ihre römische Nase operieren zu lassen. Ulla Lessmann

KNAUR E-BOOK, 400 S., 4,99 €