Starke Unterstützung für die Angeklagten vor dem Gericht in Ankara

von Jürgen Gottschlich

Rolf Wiegand war leicht geschockt. Als der Berliner Personalratsvorsitzende nach heftigem Gedränge vor dem Gerichtssaal der 13. Kammer für schwere Straftaten des Landgerichts in Ankara endlich die Zuschauerplätze erreicht hatte, blickte er in die Mündungen von Maschinenpistolen einer Anti-Terror-Einheit. Zur Abgrenzung der Zuschauer von den Angeklagten war die Gruppe Jandarma, eine Mischung aus Militärs und Polizei, in den Gerichtssaal geschickt worden, deren Mitglieder die Besucher aus dem Ausland anstarrten. "Das ist hier immer so", sagte Manfred Brinkmann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der im Gegensatz zu dem ver.dianer Rolf Wiegand schon häufiger als Prozessbeobachter in der Türkei war. Trotz des martialischen Auftritts konnten die Polizisten aber nicht verhindern, dass die 22 Angeklagten, die wenig später in den Saal geführt wurden, von ihren Familien und Freunden lautstark begrüßt wurden. Als der Richter mit der Räumung des Saales drohte, rief eine junge Frau empört: "Wir haben sie doch vermisst! Sie sind doch schon so lange im Gefängnis."

Fast 300 Tage U-Haft

Tatsächlich saßen die 22 Gewerkschafter/innen, die am 10. April endlich dem Gericht vorgeführt wurden, zu diesem Zeitpunkt schon seit fast 300 Tagen in Untersuchungshaft. Am 25. Juni 2012 hatte die Polizei in einer Großrazzia in der gesamten Türkei insgesamt 72 Gewerkschafter der türkischen Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes KESK (Kamu Emekcileri Sendikalari Konferedasyonu) festgenommen. Während der Vorsitzende der KESK, Lami Özkan, und andere Gewerkschaftsmitarbeiter aufgrund heftiger Proteste nach und nach aus der Untersuchungshaft entlassen wurden, blieben 22 Kolleg/innen bis zu der im April endlich stattfindenden Gerichtsverhandlung in Haft. Der Vorwurf gegen sie: Sie hätten in der Gewerkschaft eine geheime Gruppe gebildet, die das Ziel verfolge, "die kurdische Terrororganisation PKK zu unterstützen". Deshalb wird ihnen von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, selbst Mitglieder einer Terrororganisation zu sein.

Ein absurder Vorwurf, wie auch der erste Prozesstag dann zeigte, doch Anklagen wie die gegen die KESK-Gewerkschafter haben in der Türkei System. Die KESK ist eine linke Gewerkschaftskonföderation, zu der als wichtigste Einzelgewerkschaft Egitim Sen, eine große Lehrergewerkschaft, gehört. Egitim Sen setzt sich mit Unterstützung des gesamten KESK-Verbandes seit Jahren für einen demokratischen Umgang mit der kurdischen Minderheit in der Türkei ein und fordert unter anderem Unterricht in der kurdischen Muttersprache.

Das reichte in den Augen etlicher Staatsschutz-Staatsanwälte, um der KESK pauschal die Nähe zur kurdischen PKK-Guerilla zu unterstellen, die seit fast 30 Jahren bewaffnet für einen eigenen kurdischen Staat oder zumindest für mehr Autonomie in den kurdischen Gebieten der Türkei kämpft.

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam

Die besondere Ironie des Prozesses im April lag darin, dass die Mühlen der Justiz noch mahlen, obwohl die politische Agenda sich bereits grundlegend verändert hat. Seit Ende letzten Jahres verhandelt die türkische Regierung offiziell mit der PKK und deren inhaftiertem Führer Abdullah Öcalan über die Niederlegung der Waffen und ein Ende des Krieges. Zum kurdischen Neujahrsfest am 24. März hatte Öcalan aus dem Gefängnis heraus seine Anhänger aufgefordert, den bewaffneten Kampf einzustellen. Seitdem wird in der Türkei über den Friedensprozess diskutiert. Eine Woche vor der Gerichtsverhandlung gegen die Gewerkschafter hatte Regierungschef Tayyip Erdogan eine Gruppe Prominenter aus Kultur, Medien und auch Gewerkschaften zusammengerufen, die als Vermittler des Friedensprozesses seitdem in der Türkei von Veranstaltung zu Veranstaltung ziehen.

Einer aus dieser "Gruppe der Weisen" ist Lami Özgen, der KESK-Vorsitzende. Einen Tag nachdem er in Ankara als potentieller Terrorist vor Gericht stand, saß er mit anderen "Weisen" auf einem Podium in Diyarbakir und warb für den Friedensprozess. "In meiner Person zeigt sich die ganze Tragödie der Türkei", sagte Lami Özgen am Vorabend des 10. April im Gespräch mit den internationalen Prozessbeobachtern. "Ich soll gleichzeitig Terrorist sein und für den Friedensprozess eintreten."

Der Prozess geht weiter

Nach mehr als acht Stunden Verhandlung dämmerte es auch den Richtern in Ankara, dass etwas an den Anklagen gegen die KESK-Gewerkschafter nicht stimmen könne. Unter dem Jubel der Angehörigen und Unterstützer gaben sie bekannt, dass alle 22 Angeklagten aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Damit ist das Verfahren aber nicht eingestellt, die Angeklagten sind noch nicht freigesprochen. Der Staatsanwalt behauptet nach wie vor, es gebe viele Hinweise auf die "terroristischen Aktivitäten" der Angeklagten. Der Prozess wird im Juni fortgesetzt. Rolf Wiegand, der Personalratsvorsitzende bei der Berliner Stadtreinigung, will sich deshalb auch künftig für die türkischen Kollegen einsetzen. "Es ist unglaublich, wie hier die Anti-Terror-Gesetzgebung instrumentalisiert wird, um Gewerkschafter mundtot zu machen. Wir haben in Europa eine große Verantwortung, die türkischen Kollegen zu unterstützen."

Selbst wenn das Verfahren wegen der angeblichen Unterstützung für die PKK im Sommer eingestellt werden sollte - für die KESK wird es dann nicht unbedingt einfacher. "Wir sind Sozialisten", sagte die Gewerkschafterin Asli Aydin nach dem Prozess. "Die Regierung wird deshalb immer Gründe finden, um gegen uns vorzugehen."

Einen Beleg für ihre Befürchtung hat die türkische Polizei schon im Februar geliefert. Erneut durchsuchte sie die KESK-Zentrale und nahm einige Mitarbeiter fest. Der Vorwurf diesmal: Die KESK würde die linksradikale Terrororganisation DHKP/C unterstützen. In einem Bekennerschreiben hatte die DHKP/C sich zuvor zu einem Attentat auf die US-Botschaft in Ankara bekannt.