Der lange Arm der Heimat

Shaun Tans: Ein neues Land | Migration ist für Shaun Tan kein Thema, sondern eine Erfahrung. Der Australier mit chinesischen, malaysischen, irischen und englischen Vorfahren ist aber zudem ein hoch dekorierter Künstler. Und so greift das bereits mit Oscar und Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis ausgezeichnete Multitalent in seinem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis prämierten Comic Ein neues Land zwar nicht unbedingt persönliche, jedoch allgemeingültige Migrationserfahrungen auf, beruhend auf Berichten von Einwanderern. Die Universalität ihrer Erlebnisse beim Eintreffen in einer fremden Umgebung, ihre Sprachlosigkeit und Ängste übersetzt Tan in starke Bilder, die gänzlich ohne Text auskommen. Das Erscheinungsbild des Buches erinnert an ein vergilbtes Fotoalbum und verweist zum einen auf den Ballast aus schwermütiger Erinnerung sowie auf eine notwendige Kraftquelle, die sich aus diesen Erinnerungen speist. Diese Zerrissenheit der Innenwelt der Einwanderer wird von Tan in ausgefeilten Graphitzeichnungen sichtbar gemacht, die lediglich einer digitalen Kolorierung unterzogen wurden.

Beginnend mit den Bildern eines Mannes beim Einpacken von Hab und Gut, dem der melancholische Abschied von Frau und Kind folgt, bricht in die realistische Darstellung unvermittelt ein Element der Phantastik ein - riesige Tentakel schlängeln sich durch die Straßen, während die Familie auf dem Weg zum Bahnhof ist. Ein Symbol für die gesellschaftlichen Zustände, die den namenlosen Protagonisten zwingen, seine Familie zur Schaffung einer besseren Existenz vorübergehend zu verlassen. Angekommen in dem neuen Land, nehmen diese phantastischen Anteile zu; ein Mensch zwischen zwei Welten sieht sich mit Unvertrautem und mit Gefahren, aber auch Schönem konfrontiert, was sich dem Leser als eine surreale Wucherung inmitten der Realität präsentiert. Näherte sich Paula Bulling in Im Land der Frühaufsteher der Situation Asyl- suchender in Mecklenburg-Vorpommern über den nüchternen Weg der Comic-Reportage (ver.di publik 06_2012), vermischt Shaun Tan Wirklichkeit und Traum zu einer grafisch imposanten Darstellung der Gemütsverfassung von Immigranten und verschafft deren Stummheit Gehör. Dass das Medium Comic einen Teil seines Erfolgs bei Einwanderern in den USA ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch Sprachvereinfachung erreichte, zeigt dabei die nicht ganz ironiefreie Traditionslinie dieser Graphic Novel auf. Oliver Ristau

CARLSEN VERLAG GMBH, 128 S., 29,90 €


Birk Meinhardt: Brüder und Schwestern | Die 70er und 80er Jahre in der DDR sind der Hintergrund für diese breit angelegte Familiensaga. Da mag man schnell an Uwe Telkamps preisgekrönten Turm denken, dennoch ist dieses Buch hier ganz anders, sehr viel zugänglicher. Aus ihrem thüringischen Heimatstädtchen ziehen die drei Werchow-Kinder hinaus in die Welt, auf der Suche nach ihrem Platz im Leben, irgendwo zwischen verhaltener Anpassung und leiser Opposition. Nesthäkchen Britta schmeißt nach einem politischen Eklat die Schule und macht eine erstaunliche Karriere - beim Zirkus. Der stille Matti verzichtet aufs Studium, wird Binnenschiffer und schreibt einen systemkritischen Roman. Und Hoffnungsträger Erik versauert, nachdem er der Stasi einen Korb gegeben hat, auf einem belanglosen Pöstchen in der Außenhandelsorganisation. Währenddessen nimmt zuhause still und leise über Jahre hinweg eine Tragödie ihren Lauf. Zum Schluss gibt es ein fulminant-groteskes Finale - und wie jedem Ende wohnt auch diesem ein neuer Anfang inne, wie uns der Autor in der letzten Zeile sagt: "...wird fortgesetzt". Tina Spessert

HANSER VERLAG, 2013, 700 S., 24,90 €


Wolfgang Ullrich: Alles nur Konsum | Viele neue Produkte, die kompliziert sind, bringen uns dazu, uns zu überfordern, nur "um nicht als Versager dazustehen, der von seinen eigenen Dingen vorgeführt wird". So beschreibt es der Medientheoretiker Wolfgang Ullrich. Eine bequeme Position, von der aus Konsumkritik betrieben werden könnte, gibt es auch nicht mehr. Schnell haben wir ein schlechtes Gewissen, selbst wenn wir "korrekt" eingekauft haben, denn viele Hersteller liefern einschüchternde Begleitmusik: Texte zur Herkunft, den Produktionsbedingungen und Vorschriften zum Recycling, Netzadressen mit Möglichkeiten, die Welt zu retten, die niemand komplett studiert. Schlimmer aber ist, dass sich eine Zweiklassen-Konsumgesellschaft herausbildet, denn Produkte aus fairem Handel und aus biologischem Anbau muss man sich auch leisten können. Zu dieser Art von Luxus gehören dann auch Experimente von Wohlstandsbürgern mit Konsumverweigerung, da sie jederzeit ihren "Abenteuerurlaub" fern vom Konsum abbrechen können. Klix

WAGENBACH VERLAG, BERLIN 2013, 204 S., ZAHLREICHE ABBILDUNGEN, 11,90 €