Ausgabe 04/2013
Bullerbü sieht anders aus
Begonnen hatte es in Husby. Ein lange vernachlässigter Vorort. Mit seinen großen Wohnblöcken keine begehrte Adresse in der Hauptstadt. "Wohnst du in Husby, bist du stigmatisiert", sagt Rami al-Khamisi, Sprecher der Vorortorganisation "Megafonen". Sie hat es sich unter dem Slogan "Ein vereinter Vorort ist unbesiegbar" zur Aufgabe gemacht, für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen: "Wir fühlen uns hier ausgeschlossen aus der schwedischen Gesellschaft. Nicht nur geografisch."
Denn Stockholm ist eine geteilte Stadt. Die repräsentative Innenstadt und reiche Villenvororte sind umgeben von einem Ring aus Vororten, in denen ein Großteil der Bewohner unter angespannten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen lebt. "Die sozialen und mentalen Gräben werden immer tiefer", sagt "Megafonen": Es finde eine systematische Umverteilung der Ressourcen statt. In die City fließe das Geld, in den Außenbezirken regiere der Rotstift.
Polizeiaktion als Auslöser
Ähnlich wie bei den Unruhen in London 2011 oder in Paris 2005 gilt auch in Husby eine Polizeiaktion als Auslöser der Unruhen: Ein 69-jähriger Rentner wurde bei einem Einsatz von der Polizei erschossen. "Megafonen" warf der Polizei Rassismus vor und forderte eine Untersuchung, doch weder Medien noch Politik reagierten. Reaktionen gab es erst, als in Husby Autos brannten.
"Die Jugendlichen haben gelernt, dass Stunk offenbar die einzig wirksame Methode ist, wenn man etwas erreichen will", sagt Jennifer Hillbom, Freizeitpädagogin, aktiv in der Gewerkschaft der Kommunalbeschäftigten und Mitglied von "Megafonen". Wie viele andere, die direkt von den Polizeieinsätzen betroffen waren, macht sie die unangemessene Brutalität und den Rassismus der Beamten für die Unruhen mitverantwortlich. Personen, die sich um Vermittlung und Deeskalation bemühten, seien als "Neger" und "Affen", sie selbst sei als "Ratte" beschimpft worden. "Viele Polizisten betrachten uns erst mal als Kriminelle."
Polarisierung der Gesellschaft
Die "dramatischen Veränderungen", die es in den letzten 30 Jahren in der schwedischen Gesellschaft gegeben hat, macht der Sozialwissenschaftler Tapio Salonen dafür verantwortlich, dass sich nun Frustration in Gewalt entlade. Die Schere zwischen Arm und Reich habe sich immer weiter geöffnet. Nach einem im Mai erschienenen OECD-Bericht ist Schweden das westliche Industrieland, in dem seit den 1990er Jahren die Einkommensunterschiede am stärksten gewachsen sind.
Die Politik einer Mitte-Rechts-Regierung mit mehreren Steuersenkungen für Gutbetuchte bei gleichzeitigem Abbau im öffentlichen Dienst und umfassenden Privatisierungen macht sich überall in Schweden bemerkbar. In Husby wurden beispielsweise das öffentliche Gesundheitszentrum, ein Jugendtreffpunkt, eine Schule und mehrere Kinderfürsorgeeinrichtungen geschlossen. Die Polarisierung, die man jetzt in Stockholm sieht, sei nur die Konsequenz solcher Politik und der Einkommenskluft, sagt Salonen. "Ethnizität spielt dabei nur eine ganz untergeordnete Rolle." Wenn in Schweden bisher nur einzelne Autos brannten und nicht die Vororte, sei das auch Organisationen wie "Megafonen" zu verdanken, sagt der Kulturwissenschaftler Ove Sernhede. Reinhard Wolff